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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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kam, aufgebracht und vor sich hinbrummelnd, traf er in der Khana nur Dimple und Bengali an. Der alte Mann machte die Buchhaltung und kümmerte sich um den Laden; er war schon lange bei ihm, seit jenen Tagen, in denen Rashid noch als Tapori in der Grant Road Station Charas verkauft hatte. Bengali verbrachte viel Zeit damit, die Blechkiste auf- oder abzuschließen, die ihnen als Kasse diente, entnahm ihr Geld oder legte Geld hinein. Seit unzähligen Jahren arbeitete er schon für Rashid, trotzdem war kaum etwas über das Leben bekannt, das er geführt hatte, ehe er in die Shuklaji Street kam, nur dass er einmal als Schreiber für eine Regierungsstelle in Kalkutta gearbeitet hatte. Er war irgendwas zwischen fünfzig und siebzig, runzlige Haut straff über Knochen gespannt, und er sprach Englisch mit einem bemüht britischen Akzent.
    »Syzygie«, sagte er eines Nachmittags, und er wiederholte das Wort für den Fall, dass der Student ihn nicht gehört hatte. »Syzygie ist der Grund, warum die Welt verrücktspielt.«
    »Was?«
    »Syzygie – dazu ist es nie zuvor gekommen und wird es wohl auch nie wieder.«
    »Nein, wohl nicht. So was geschieht nur einmal im Leben.«
    »Aber wie kann das alles beeinflussen? Neun Planeten, aufgereiht auf derselben Sonnenseite. Heißt das, jetzt naht das Ende der Welt, wie manche Leute glauben?«
    »Ich fürchte, der Reiz ist groß, es so zu sehen, gleichsam als vereinheitlichte Theorie der Apokalypse.«
    »Verstehst du? Alle Planeten in einer Reihe hintereinander, wie im Gänsemarsch. Ich glaube, das ist eine wichtige Frage, diese Frage nach der Syzygie. Womöglich die wichtigste Frage überhaupt.«
    Bengali hatte seine übliche Haltung eingenommen, kauerte in der Hocke, den Kopf zwischen den knochigen Knien. Er schien zu lächeln, doch ließ sich das nicht genau sagen, weil sein Gesicht so ausgemergelt war; die Haut schimmerte in papiernem Gelb. Er sagte dem Studenten, er solle sich keine Sorgen machen. Chandulis und Charasis seien wie Kakerlaken, sagte er, die würden alles überleben, sogar das Ende der Welt. Er zitierte ein Sprichwort aus dem Punjab, ein Gedicht, vielleicht auch einen Limerick:
    Charasi, khadi na marsi.
    Gar marsi, tho chaalis admi agay karsi.
    Gut zehn Minuten lang redete er über die Geschichte des Apokalypse-Mythos und andere Themen, bedächtig, fast wie ein Gelehrter, und der Student lauschte mit offenem Mund. Bengali, dachte Rashid, beschwor große Was-Wäre-Wenns herauf, zauberte sie aus dem Nichts herbei und war dabei selbst so ein Was-Wäre-Wenn. Er sprach über mythologische, religiöse und politische Gestalten, als würde er sie gut kennen, würde ihre vielen persönlichen Fehler kennen und die tönernen Füße, auf denen sie standen. Er war auf Du und Du mit Jesus, Nehru und Gandhi, mit Cassius Clay, Winston Churchill, Gina Lollobrigida und Jean-Paul Sartre. Wäre Orpheus’ Geschichte anders ausgegangen, fragte Bengali den Studenten, wenn er sich für ein fröhlicheres Lied entschieden hätte? Vielleicht hatte er ja, abgelenkt wie er war, einen Irrtum begangen, die Lage falsch eingeschätzt und die falsche Melodie gewählt. Singt man für die Furien, entschiede ich persönlich mich für ein Lied, das ihnen gefallen könnte. Was, wenn Orpheus eine klügere Wahl getroffen hätte? Was wäre dann passiert? Hätte er seine Frau und seinen Kopf behalten? Und so ganz nebenbei will ich nicht vergessen zu erwähnen, dass der eigentliche Reiz dieser Erzählung im psychologischen Porträt eines trauernden Menschen liegt. Denn wer auch nur das Mindeste über Trauer weiß, der weiß, dass ihre auffälligste äußere Manifestation eine tiefe Abwesenheit ist, fast wie Zerstreutheit, aber ohne die dazugehörige Unbekümmertheit.
    Von Orpheus, Ikarus oder Stephen Dedalus wandte er sich bengalischen Kulturheroen zu, Tagore, Satvajit Ray und den Dutts, Guru, Toru und Michael Madhusudhan. Er litt an jenem für Bengalen so bezeichnenden regionalen Syndrom, der Überzeugung nämlich, dass kein Volk auf der Welt derart talentiert und künstlerisch begabt wie das seine war. Nur handelte es sich bei Bengali um einen abtrünnigen Bengalen, und manche seiner Ansichten waren durchaus mit Blasphemie durchsetzt. Was, wenn Tagore den Nobelpreis nicht bekommen hätte, als er ihn bekam, fragte Bengali? Wie wäre sein Werk dadurch beeinflusst worden? Ich schätze, das hätte ihn für Experimente offener und in jeder Hinsicht interessanter gemacht, vor allem in seiner Lyrik, die, das muss ich

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