Narcopolis
Geschäftsmann sollte sich nie an der eigenen Ware vergreifen, erst recht nicht, wenn er im Drogengeschäft tätig sei, und ein Muslim dürfe die Sucht keinesfalls über die religiösen Pflichten stellen, so etwas täten höchstens die Kuffar. Rashid sah der Bettlerin zu, die jetzt Abfall vom Bürgersteig fegte, und dachte dabei an sein System. Für den Ruf eines Mannes war es wichtig, nie berauscht zu wirken. Nachmittags las er deshalb
Inquilab
, überflog die Leitartikel, einige Beiträge zum Treiben der muslimischen Bruderschaft in Syrien oder den neusten Übergriffen der Juden auf den Libanon – und gönnte sich ein kurzes Nickerchen. Dann gab er Bengali einen Befehl, irgendeinen, verlangte eine Pfeife oder das Mittagessen, den Malishwallah, Whisky oder Kokain, ein laut ausgesprochener Befehl an einen Angestellten, um die Rangordnung wiederherzustellen. Hatte er viel getrunken, ging er abends für ein, zwei Stunden Schlaf nach oben. Er war stets auf seinen Ruf bedacht, und jetzt saß hier dieser Khalid, dieser Kashmiri, und verbreitete Verleumdungen. Genau in diesem Moment fiel Rashid etwas Merkwürdiges auf. Alle Geräusche verstummten und alles Treiben erstarrte, als würde jeden Augenblick eine Riesenwelle über der Straße zusammenstürzen, der Sekundenbruchteil der Ruhe vor dem Chaos. Die Bettlerin verharrte reglos, eine dunkle Marmorstatue, die angespannt den Jahrzehnten lauschte, die sie durcheilten; der Salzmarsch zur Freiheit; die Jahre des Aufruhrs, des Blutvergießens und der sogenannten Unabhängigkeit; die Jahre der pakistanischen Kriege, als man Scheinwerfer schwarz anstrich, damit die Automobile nicht zum Ziel feindlicher Kampfjets wurden; die Jahre der Verordnungen, der Kontrolle und der Planwirtschaft, die Jahre des Scheiterns. Alles war wie erstarrt, selbst der Verkehr, das Sonnenlicht und die leichte, leise Brise, dann aber machte sich die Frau wieder an die Arbeit, die Straße fand zu ihrem gewohnten Tempo zurück, und Rashid begriff, dass er die Luft angehalten hatte.
•••
»Was treibt sie da, die Bettlerin, was treibt sie nur?«, fragte er Khalid.
»Sie gehört schon der Vergangenheit an, Chandu«, sagte Khalid, »genau wie diese Pfeifen.«
»Wie alles, wie wir auch.«
»Aus dir redet das Nasha, nicht du. Hör zu, bald wird man alle Khanas schließen, auch unsere. Allein letzten Monat wurden sechs geschlossen. In nur einem Monat. Mit Schlössern und Ketten verhängt im Namen der Zollbehörde.«
»In dieser Straße gibt es zu viele. Sollen sie ruhig welche schließen.«
»Und dann? Womit willst du dein Geld verdienen?«
»Mit diesem und jenem.«
»Du hast einen BA , bist ein gebildeter Mann, aber du redest, als könntest du nicht lesen und schreiben.«
Rashid wischte sich mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht und ließ den Gedanken in seinem Kopf Gestalt annehmen, ehe er antwortete. Er sagte: Ist schon komisch, dass nur Ungebildete solchen Wert auf Bildung legen. Geht man zur Schule, begreift man, wie wenig sie bedeutet, da die Straße immer dem gehört, der sie sich nimmt. Heute gehört sie uns; morgen wird jemand anderes unseren Platz einnehmen. Mein Problem ist, dass ich kein Garad-Heroin mag. Garadulis drücken mit dem Bleifuß aufs Gaspedal, und das Auto, das bislang zehn Stundenkilometer fuhr, rast plötzlich mit hundert weiter. Superschnell, dann kracht es. Ein Chanduli kann jahrelang rauchen und gesund bleiben; Garadulis sind ungeduldig, sie wollen schnell sterben. Du sagst, wir sind Geschäftsleute, und wir sollen den Leuten liefern, was sie haben wollen. Was wäre ich aber für ein Geschäftsmann, gäbe ich Chandu-Kunden Heroin? Ich wäre ein Chooth-Geschäftsmann. Ich schösse mir selbst ins Knie. Wieso erzähl ich dir das alles? Weil ich dich hiermit bitten möchte, mich nie wieder zu fragen, ob ich in das Geschäft mit einsteige.
Salim, Pasina und Dimple sahen nicht in seine Richtung, einige andere schon. Sogar Bengali, unerschütterlich wie der alte Mann sonst war, vergaß sich und starrte herüber. Khalid steckte sich eine Zigarette an, rauchte und musterte Rashid. Das Hemd trug er in die gebügelte Hose gestopft, und der Kashmiri-Topi saß ihm schief auf dem Kopf. Er war ein Drogendealer, sah aber aus wie ein Ladenbesitzer.
Schließlich sagte er: »Die Verrückte? Sie flickt einen Salvar, sie stopft ihn, deshalb ist sie nur halb angezogen. Sie ist verrückt, bleibt aber stumm. Deine Kaamvali, diese Hijra Dimple, warum lässt du sie so viel
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