Narkosemord
vor ihm werde dann auf magische Weise verschwunden sein und er werde aus dem schlimmsten Alptraum seines Lebens aufwachen. Aber natürlich war das alles hier kein böser Traum. Jeffrey stand zum zweitenmal wegen Patty Owens vorzeitigem Ableben vor acht Monaten vor Gericht. Er saß in einem Gerichtssaal in Boston und wartete darauf, daß die Geschworenen ihren Spruch über das Verbrechen fällten, das man ihm zur Last legte.
Jeffrey sah über den Kopf seines Verteidigers hinweg und zu der Zuschauermenge hinüber. Erregtes, leises Stimmengewirr erfüllte den Raum - ein erwartungsvolles Murmeln. Er wandte den Blick wieder ab; er wußte, daß er im Mittelpunkt des Geredes stand. Am liebsten hätte er sich versteckt. Er fühlte sich zutiefst gedemütigt von dem öffentlichen Spektakel, das sich so rasant entfaltet hatte. Sein ganzes Leben war aufgerollt und zerbröselt worden. Seine berufliche Laufbahn ging den Bach runter. Er fühlte sich überwältigt und zugleich seltsam empfindungslos.
Jeffrey seufzte. Randolph Bingham, sein Anwalt, hatte ihn dringend ermahnt, ruhig und beherrscht zu bleiben. Leichter gesagt als getan, vor allem jetzt. Nach all den Herzensqualen, der bangen Sorge und den schlaflosen Nächten war dies das Ende der Fahnenstange: Die Geschworenen hatten ihre Entscheidung getroffen. Der Schuldspruch stand bevor.
Jeffrey betrachtete Randolphs aristokratisches Profil. Der Mann war ihm in diesen letzten acht strapaziösen Monaten ein zweiter Vater geworden, obwohl er nur fünf Jahre älter als Jeffrey war. Manchmal hatte Jeffrey beinahe so etwas wie Liebe zu ihm empfunden, dann wiederum eher Wut und Haß. Aber immer hatte er Vertrauen in die Fähigkeiten des Anwalts gehabt, zumindest bis zu diesem Augenblick.
Er schaute hinüber zur Anklagevertretung und musterte den Bezirksstaatsanwalt. Jeffrey hegte eine spezielle Abneigung gegen diesen Mann, der diesen Fall anscheinend als Vehikel betrachtete, seine politische Karriere voranzutreiben. Seine angeborene Intelligenz war nicht zu leugnen, doch Jeffrey hatte im Laufe des viertägigen Prozesses nur Verachtung für ihn entwickelt. Aber jetzt, als er zusah, wie der Staatsanwalt sich lebhaft mit einem Assistenten unterhielt, konnte er ihn seltsam emotionslos betrachten. Die ganze Sache war ein Job für den Mann gewesen, nicht mehr und nicht weniger.
Jeffreys Blick wanderte vom Staatsanwalt zu der leeren Geschworenenbank. Während des Verfahrens hatte das Wissen, daß diese zwölf Fremden sein Schicksal in der Hand hatten, ihn regelrecht gelähmt. Nie zuvor hatte er sich so ausgeliefert gefühlt. Bis zu dieser Sache hatte Jeffrey zumeist in der Illusion gelebt, daß er sein Schicksal größtenteils selbst in der Hand hatte. Dieses Verfahren hatte ihm gezeigt, wie sehr er sich geirrt hatte.
Die Geschworenen hatten sich zwei bange Tage - und was Jeffrey anging, auch zwei schlaflose Nächte - lang beraten. Jetzt wartete man darauf, daß sie in den Gerichtssaal zurückkehrten. Wieder fragte Jeffrey sich, ob die zweitägige Beratung ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Randolph, in seiner aufreizend konservativen Art, weigerte sich, Spekulationen anzustellen. Jeffrey fand, der Mann hätte durchaus ein bißchen lügen können, um ihm ein paar Stunden relativen Friedens zu verschaffen.
Trotz seiner Absicht, keinerlei Nervosität zu zeigen, begann Jeffrey jetzt, über seinen Schnurrbart zu streichen. Als er es merkte, faltete er die Hände und legte sie vor sich auf den Tisch.
Er warf einen Blick über die linke Schulter und sah Carol, seine demnächst geschiedene Frau. Sie hatte den Kopf gesenkt und las etwas. Er schaute wieder zum leeren Richterstuhl. Es hätte ihn ärgern können, daß sie in diesem Augenblick entspannt genug war, um etwas zu lesen, aber das tat es nicht. Statt dessen war er nur dankbar dafür, daß sie da war und daß sie ihm so viel Unterstützung gegeben hatte. Immerhin waren sie beide schon vor diesem juristischen Alptraum gemeinsam zu dem Schluß gekommen, daß sie sich auseinandergelebt hatten.
Als sie acht Jahre zuvor geheiratet hatten, war es ihnen nicht wichtig erschienen, daß Carol extrem gesellig und aufgeschlossen war, während er zum Gegenteil neigte. Es hatte Jeffrey auch nicht gestört, daß Carol die Gründung einer Familie aufschieben und zunächst ihre Karriere in der Bank weitertreiben wollte - zumindest nicht, solange er nicht begriffen hatte, daß »später« für sie in Wahrheit »nie« bedeutete. Und jetzt wollte
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