Narkosemord
kupferbeschlagenen Zierbrüstung gekrönt, die im Laufe der Jahre die übliche grüne Patina angenommen hatte. Sie hätte sogar recht ansehnlich gewirkt, wäre sie nicht an der rechten Ecke abgerissen gewesen, so daß ein großer Teil herunterhing. Die Haustür, die Feuerleiter und der gesamte Putz waren dringend reparaturbedürftig, und wie die gesamten Nachbarhäuser machte das Haus einen verwahrlosten, baufälligen Eindruck.
»Sieht nach keiner guten Gegend aus«, meinte Kelly. Die Straße war mit Abfall übersät. Die Autos, die auf beiden Seiten am Straßenrand parkten, waren zerbeult und heruntergekommen, mit einer Ausnahme, einer roten Corvette.
»Ich bin gleich wieder zurück«, sagte Jeffrey und beugte sich zur Seite, um die Tür zu öffnen.
Kelly fiel ihm in den Arm. »Du willst doch nicht etwa da rein.«
»Hast du eine bessere Idee?« fragte Jeffrey. »Außerdem geh’ ich nur mal kurz in den Hausflur und sehe nach, ob sein Name an der Klingel steht. Ich komm’ sofort wieder zurück.«
Kellys Bedenken ließen Jeffrey einen Moment innehalten. Er stand unschlüssig auf der Straße und überlegte, ob er das Richtige tat. Aber er mußte sich vergewissern, ob Harding noch in Boston war. Er gab sich einen Ruck und ging zwischen den parkenden Autos hindurch zur Haustür des gelben Hauses. Wie erwartet, war sie offen. Sie führte in einen kleinen Hausflur.
Jeffrey trat in den Flur. Innen war das Haus noch schäbiger als außen. Eine billige Lampe hing an einem blanken Draht von der Flurdecke. Die Innentür war irgendwann einmal mit einem Stemmeisen aufgebrochen und nie mehr repariert worden. In der Ecke des Flurs lag ein aufgeplatzter Plastikmüllsack. Aus dem Riß war Abfall herausgefallen, der unbeachtet vor sich hin stank.
Auf dem Klingelschild neben der Sprechanlage standen sechs Namen. Jeffrey schloß daraus, daß jedes Stockwerk ein Apartment beherbergte, das Untergeschoß mitgerechnet. Trent Hardings Name stand ganz zuoberst. Und er fand ihn auch auf einem der Briefkästen. Jeffrey sah, daß an allen Briefkästen die Schlösser kaputt waren. Er öffnete Hardings Briefkasten, um zu sehen, ob Post darin war. In dem Moment, als seine Hand den Briefkasten berührte, ging die Innentür auf.
Jeffrey fand sich unversehens Trent Harding gegenüberstehend. Er hatte vergessen, wie muskulös Harding aussah. Erst jetzt bemerkte er, daß der Mann darüber hinaus etwas Gemeines an sich hatte, etwas Brutales, das ihm nie aufgefallen war, wenn er ihn im OP des Memorial gesehen hatte. Seine Augen waren blau und kalt und lagen tief in den Höhlen, überschattet von buschigen Brauen. Auch hatte Harding eine Narbe, die Jeffrey vergessen hatte und die auf dem Foto nicht zu erkennen gewesen war.
Jeffrey schaffte es gerade noch, in dem Sekundenbruchteil, bevor Harding ihn sah, die Hand vom Briefkasten wegzuziehen. Im ersten Moment befürchtete er, Harding werde ihn erkennen. Aber mit einem Gesichtsausdruck, der einem höhnischen Lächeln ähnelte, drängte er sich grußlos an Jeffrey vorbei, ohne auch nur den Ansatz eines Stutzens oder Innehaltens.
Jeffrey atmete einmal tief durch. Er mußte sich einen Moment gegen die Briefkästen lehnen, um sich von dem Schreck zu erholen, den ihm diese plötzliche, völlig unerwartete Begegnung eingejagt hatte. Er hatte ganz weiche Knie bekommen. Aber wenigstens wußte er jetzt, daß Trent Harding die Stadt nicht verlassen hatte. Er hatte zwar im St. Joseph’s gekündigt, aber er hielt sich nach wie vor in Boston auf.
Jeffrey verließ den Hausflur, zwängte sich zwischen den parkenden Wagen hindurch und stieg wieder zu Kelly ins Auto. Kelly war leichenblaß.
»Der Kerl ist gerade aus dem Haus gekommen!« fuhr sie ihn an. »Ich hab’ dir doch gleich gesagt, es ist Wahnsinn, da reinzugehen! Ich hab’s gewußt!«
»Es ist doch gar nichts passiert«, beruhigte Jeffrey sie. »Jetzt wissen wir wenigstens, daß er nicht aus der Stadt abgehauen ist. Aber ich muß gestehen, er hat mir einen ordentlichen Schreck eingejagt. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob er der Mörder ist, aber von nahem schaut er ganz schön gefährlich aus. Er hat eine Narbe unter dem Auge, die man auf dem Foto nicht sehen konnte, und er hat irgendwie was Brutales im Blick, was Irres.«
»Er muß geistesgestört sein, wenn er was in das Anästhetikum getan hat«, sagte Kelly, während sie nach vorn langte und den Wagen startete.
Jeffrey beugte sich herüber und legte die Hand auf ihren Arm. »Warte«, bat
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