Narkosemord
diesen Harding betrifft, da sagen wir ihr, wir hätten gewisse Bedenken hinsichtlich seiner Qualifikation.«
Sie gingen zusammen die Treppe hinunter und betraten die Verwaltung. Als sie vor der Tür von Polly Arnsdorfs Büro ankamen, wurde ihnen gesagt, sie führe gerade ein Ferngespräch und sie möchten sich einen Moment gedulden. Sie setzten sich und warteten. Aus dem hektischen Kommen und Gehen, das um das Büro herum herrschte, konnten sie ersehen, wie beschäftigt Polly Arnsdorf war.
Als sie schließlich hineingebeten wurden, stellte Kelly Jeffrey wie abgesprochen als Dr. Justin Webber vor.
»Und was kann ich für Sie tun?« fragte Polly Arnsdorf. Ihr Ton war freundlich, aber geschäftsmäßig.
Kelly warf Jeffrey einen kurzen Blick zu, dann begann sie. »Wir wollten uns über einen der Pfleger hier im Haus erkundigen. Sein Name ist Trent Harding.«
Polly nickte und wartete. Als Kelly nichts sagte, fragte sie: »Und was möchten Sie wissen?«
»Zunächst einmal würden wir gern erfahren, wo in der Klinik er arbeitet«, sagte Jeffrey.
»Gearbeitet hat«, korrigierte Polly Arnsdorf. »Mr. Harding hat uns gestern verlassen.«
Jeffrey fühlte einen Stich der Enttäuschung. O nein, dachte er; nicht jetzt, da wir so nah dran sind! Positiv an der Nachricht war freilich, daß sie sein Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein, nur noch verstärkte: Daß Harding gleich nach der letzten anästhetischen Komplikation gekündigt hatte, war ein weiteres Indiz, das ihn belastete.
»Und wo hat er gearbeitet?« fragte Jeffrey.
»Im OP«, antwortete Polly Arnsdorf. Sie blickte mit gerunzelter Stirn zwischen Kelly und Jeffrey hin und her. Ihr Instinkt sagte ihr, daß da irgend etwas im Busch sein mußte, und zwar etwas ziemlich Ernstes.
»In welcher Schicht hat er gearbeitet?« fragte Kelly.
»In den ersten Monaten in der Spätschicht. Aber dann ist er in die Tagschicht übergewechselt. Und da ist er bis gestern auch geblieben.«
»Kam seine Kündigung überraschend für Sie?« wollte Jeffrey wissen.
»Eigentlich nicht«, antwortete Polly Arnsdorf. »Wenn nicht so ein Mangel an guten Fachkräften herrschen würde, hätte ich ihm schon vor einer Weile selbst die Kündigung nahegelegt. Er hatte ständig Reibereien mit seinen Vorgesetzten - nicht nur hier bei uns, sondern auch in anderen Institutionen, in denen er gearbeitet hatte. Mrs. Raleigh hatte alle Hände voll mit ihm zu tun. Er redete ihr ständig in ihre Arbeit hinein und wollte ihr Vorschriften machen, wie sie den OP zu führen hätte. Aber fachlich war er hervorragend. Und außerordentlich intelligent, könnte ich hinzufügen.«
»Wo hat der Mann sonst noch gearbeitet?« fragte Jeffrey.
»Schon in den meisten Bostoner Kliniken. Ich glaube, das einzige größere Krankenhaus, in dem er noch nicht gearbeitet hat, ist das Boston City Hospital.«
»Hat er auch im Commonwealth und im Suffolk General gearbeitet?« fragte Jeffrey.
Polly Arnsdorf nickte. »Soweit ich mich erinnern kann, ja.«
Jeffrey vermochte sich kaum noch zu beherrschen. »Wäre es möglich, einen Blick in seine Akte zu werfen?«
»Das geht leider nicht«, sagte Polly Arnsdorf. »Unsere Personalakten sind vertraulich.«
Jeffrey nickte. Das hatte er erwartet. »Könnten Sie mir denn ein Foto von ihm zeigen? Das müßte doch gehen, oder?«
Polly Arnsdorf beugte sich über ihr Sprechgerät und bat ihren Sekretär, ein Foto von Trent Harding aus dem Aktenschrank herauszusuchen. Dann fragte sie: »Darf ich erfahren, woher Ihr Interesse an Mr. Harding rührt?«
Jeffrey und Kelly begannen gleichzeitig zu sprechen. Jeffrey machte Kelly mit dem Kopf ein Zeichen, daß sie weiterreden solle. »Es bestehen da wohl einige Bedenken hinsichtlich seiner fachlichen Qualifikation«, sagte sie.
»Das ist eigentlich nicht der Bereich, in dem ich Bedenken bei Mr. Harding anmelden würde«, erwiderte Polly Arnsdorf. In dem Moment kam ihr Sekretär mit einem Foto herein. Sie nahm es entgegen und reichte es Jeffrey über den Schreibtisch. Kelly beugte sich herüber, um es sich ebenfalls anzuschauen.
Jeffrey hatte den Mann oft im Memorial im OP gesehen. Er erkannte seinen verblüffend blonden Bürstenschnitt und die untersetzte Figur sofort wieder. Soweit er sich entsinnen konnte, hatte er nie mit dem Mann gesprochen, aber er hatte ihn als stets zurückhaltend in seinem Auftreten und als gewissenhaften Arbeiter in Erinnerung. Er sah ganz gewiß nicht aus wie ein Killer, eher wie der Prototyp des amerikanischen
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