Narkosemord
Arbeit gefahren, ohne mit ihm zu sprechen. Er wollte sich entschuldigen, weil er ihre Bemühungen am letzten Abend nicht gebührend zu schätzen gewußt hatte. Es war gut, daß sie ihn gestört und daß sie ihn geärgert hatte, das war ihm jetzt klar. Ohne es zu wissen, hatte sie ihn vor dem Selbstmord bewahrt. Zum erstenmal in seinem Leben hatte es einen positiven Effekt gehabt, daß er wütend geworden war.
Aber Carol war längst weg. Ein Zettel lehnte an der Müslidose auf dem Küchentisch. Sie habe ihn nicht stören wollen, weil er sicher Ruhe brauche, aber sie habe früh zur Arbeit gemußt. Dafür habe er sicher Verständnis.
Jeffrey schüttete sich Müsli in eine Schale und holte die Milch aus dem Kühlschrank. Er beneidete Carol um ihren Job. Er wünschte, er hätte auch zur Arbeit gehen können. Das hätte ihn zumindest abgelenkt. Gern hätte er sich nützlich gemacht. Das hätte seinem Selbstwertgefühl geholfen. Ihm war nie klar gewesen, wie sehr seine Persönlichkeit durch seine Arbeit definiert gewesen war.
Er kehrte in sein Zimmer zurück und beseitigte die Infusionsgerätschaften, indem er sie in alte Zeitungen wickelte und in die Mülltonne in der Garage warf. Carol sollte die Sachen nicht finden. Es bereitete ihm ein ungeheures Unbehagen, wissentlich und willentlich dem Tode so nah gewesen zu sein.
Der Gedanke an Selbstmord war ihm früher schon einmal in den Sinn gekommen, aber stets in metaphorischem Kontext und zumeist eher als Rachephantasie, um es jemandem heimzuzahlen, der ihm seiner Meinung nach in emotionaler Hinsicht unrecht getan hatte - beispielsweise, als seine Freundin in der achten Klasse ihre Zuneigung launenhaft auf seinen besten Freund verlagert hatte. Aber gestern abend war es etwas anderes gewesen, und die Vorstellung, wie nahe er daran war, es auch zu tun, ließ seine Knie weich werden.
Während er ins Haus zurückging, überlegte er, welche Wirkung sein Selbstmord wohl auf seine Freunde und seine Familie gehabt hätte. Für Carol wäre es wahrscheinlich eine Erleichterung gewesen. Sie hätte die Scheidung nicht mehr zu Ende führen müssen. Er fragte sich, ob jemand ihn vermißt hätte. Wahrscheinlich nicht…
»Herrgott noch mal!« rief er aus, als er merkte, wie albern diese Gedankengänge waren, und sich an seinen Vorsatz erinnerte, depressiven Stimmungen zu widerstehen. Oder sollte sein Denken sich bis ans Ende seiner Tage von seinem vernichteten Selbstwertgefühl ernähren?
Aber es war schwer, das Thema Selbstmord aus seinen Gedanken zu vertreiben. Immer wieder ging ihm Chris Everson durch den Kopf. War sein Suizid das Produkt einer akuten Depression gewesen, die wie ein jähes Unwetter über ihn hereingebrochen war, wie bei Jeffrey am Abend zuvor? Oder hatte er ihn einige Zeit geplant. So oder so - sein Tod war ein furchtbarer Verlust für jedermann gewesen: für seine Familie, für die Öffentlichkeit und auch für den medizinischen Berufsstand.
Auf dem Weg zu seinem Zimmer blieb Jeffrey stehen und starrte mit blicklosen Augen aus dem Wohnzimmerfenster. Seine Situation war nicht minder trostlos. Vom Standpunkt der Produktivität aus betrachtet, kam der Verlust seiner Approbation und die Gefängnisstrafe einem gelungenen Selbstmord gleich. »Verdammt!« schrie er, riß eines der Kissen von der Couch und schlug ein paarmal mit der Faust hinein. »Verdammt, verdammt, verdammt!«
Rasch hatte er sich abreagiert und legte das Kissen wieder hin. Niedergeschlagen ließ er sich auf das Sofa fallen. Er verschränkte die Finger, legte die Ellbogen auf die Knie und versuchte sich vorzustellen, er sei im Gefängnis. Ein grauenhafter Gedanke! Was für eine Travestie der Gerechtigkeit! Die Kunstfehlerklage war mehr als ausreichend gewesen, um sein Leben in schwerwiegender Weise durcheinanderzubringen und zu verändern, aber dieser Unfug mit dem Strafverfahren - es war, als habe man Salz in eine ohnehin tödliche Wunde gestreut.
Jeffrey dachte an seine Kollegen in der Klinik und an andere befreundete Ärzte. Anfangs hatten sie ihm alle den Rücken gestärkt, zumindest bis der Strafantrag gestellt worden war. Von da an waren sie ihm aus dem Weg gegangen, als habe er eine ansteckende Krankheit. Jeffrey fühlte sich isoliert und einsam. Und stärker als alles andere war seine Wut.
»Es ist einfach nicht fair!« stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ganz gegen seine Art packte er ein Stück von Carols Kristallnippes von einem Beistelltisch und schleuderte es in blanker
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