Narkosemord
weit. Die Flugsteigkontrolle rief ihn zurück zu ihrem Pult.
»Ihr Name bitte?« fragte die Frau mit ausdrucksloser Miene.
Jeffrey zögerte. Er wollte sich nicht zu erkennen geben, denn er hatte keine Lust, den Behörden irgend etwas zu erklären.
»Ich kann Ihnen aber Ihr Ticket nicht zurückgeben, wenn Sie mir nicht Ihren Namen nennen«, sagte die Angestellte, leicht gereizt jetzt.
Jeffrey gab nach und bekam sein Ticket ausgehändigt. Er schob es hastig in die Tasche und begab sich durch die Sicherheitskontrolle zur Herrentoilette. Er mußte sich beruhigen. Seine Nerven waren am Ende. Er stellte sein Gepäck ab und lehnte sich an die Kante des Waschbeckens. Er haßte sich wegen seiner eigenen Wankelmütigkeit, erst bei dem Selbstmord, jetzt bei der Flucht. In beiden Fällen hatte er das Gefühl, die richtige Wahl getroffen zu haben, aber was für Möglichkeiten hatte er jetzt noch? Er spürte, daß die Depressionen zurückzukehren drohten, doch er kämpfte dagegen an.
Chris Everson hatte wenigstens den Mut besessen, seine Entscheidung, auch wenn sie irregeleitet gewesen war, in die Tat umzusetzen. Jeffrey verfluchte sich von neuem dafür, daß er ihm kein besserer Freund gewesen war. Hätte er nur damals schon gewußt, was er heute wußte, er hätte den Mann vielleicht retten können. Aber erst jetzt hatte er eine Vorstellung von dem, was Chris durchgemacht haben mußte. Jeffrey verabscheute sich dafür, daß er ihn damals nicht angerufen und dieses Versäumnis sogar noch verschlimmert hatte, indem er sich auch um die junge Witwe, Kelly Everson, nicht gekümmert hatte.
Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Als er seine Haltung halbwegs wiedergewonnen hatte, nahm er seine Sachen und verließ die Toilette. Trotz des Betriebs in der Flughafenhalle fühlte er sich einsam und isoliert. Der Gedanke an die Heimkehr in ein leeres Haus war bedrückend. Aber er wußte nicht, wohin er sich sonst wenden sollte. Ratlos ging er in Richtung Parkhaus.
An seinem Wagen angekommen, legte er den Koffer in den Kofferraum und den Aktenkoffer auf den Beifahrersitz. Dann setzte er sich hinters Steuer, starrte blind nach vorn und wartete auf eine Eingebung.
Ein paar Stunden lang saß er so da und betrachtete sein Scheitern. Noch nie war er so tief unten gewesen. Wie besessen von dem Gedanken an Chris Everson, fragte er sich schließlich, was wohl aus Kelly geworden sein mochte. Er hatte sie vor Chris’ Tod drei- oder viermal bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen. Er konnte sich sogar erinnern, daß er Carol gegenüber ein paar beifällige Bemerkungen über sie gemacht hatte, was Carol damals nicht gerade erfreute.
Ob Kelly noch im Valley Hospital arbeitete? Ob sie überhaupt noch in der Gegend von Boston wohnte? Er erinnerte sich, daß sie einsfünfundsechzig oder einssiebzig groß und von schlanker, sportlicher Gestalt gewesen war. Sie hatte langes braunes Haar mit roten Strähnen gehabt, das hinten von einer Spange zusammengehalten worden war. Er entsann sich, daß sie ein breites Gesicht mit dunkelbraunen Augen gehabt hatte und zierliche Züge, die oft in einem hellen Lächeln erstrahlt waren. Aber woran er sich vor allem erinnerte, war ihre Aura. Sie war von einer Verspieltheit gewesen, die sich wunderbar mit femininer Wärme und Aufrichtigkeit vereint hatte. Man hatte sie sofort gernhaben müssen.
Und während seine Gedanken von Chris zu Kelly wanderten, dachte er unversehens, daß sie besser als sonst irgend jemand verstehen würde, was er jetzt durchzumachen hatte. Sie hatte durch die emotionalen Verwüstungen eines Kunstfehlerprozesses ihren Mann verloren, und sie würde infolgedessen eine Sensibilität für Jeffreys Not besitzen. Möglicherweise hatte sie sogar einen Vorschlag, wie damit umzugehen wäre. Zumindest konnte sie vielleicht ein wenig von dem so dringend benötigten Mitleid aufbringen. Und auf jeden Fall hätte er sein Gewissen beruhigt, indem er sie endlich anrief, wie er es im Unterbewußtsein schon immer hatte tun wollen.
Jeffrey kehrte zum Terminal zurück. In der nächstbesten Telefonzelle schlug er das Telefonbuch auf und suchte nach Kelly Everson. Er hielt den Atem an, als sein Zeigefinger die Namensspalte herunterfuhr. Bei K.C. Everson in Brookline hielt er an. Das sah vielversprechend aus. Er warf eine Münze ein und wählte. Das Telefon klingelte einmal, zweimal, dreimal. Er wollte schon einhängen, als jemand abnahm. Eine fröhliche Stimme ertönte aus dem Hörer.
Jeffrey merkte, daß
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