Narkosemord
zurecht?«
Jeffrey hatte nicht erwartet, daß sie so schnell über seine Probleme reden würden. Wie kam er eigentlich zurecht? In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er versucht, sich umzubringen, und als das gescheitert war, hatte er versucht, das Land zu verlassen. »Es ist schwierig.« Mehr brachte er nicht heraus.
Kelly langte hinüber und drückte ihm die Hand. »Ich glaube nicht, daß die Leute eine Ahnung davon haben, was für einen Tribut diese Kunstfehlerprozesse fordern. Und ich rede nicht von Geld.«
»Das wissen Sie besser als die meisten«, sagte Jeffrey. »Sie und Chris haben den höchsten Preis gezahlt.«
»Stimmt es, daß Sie ins Gefängnis müssen?« fragte Kelly.
Jeffrey seufzte. »Es sieht so aus.«
»Das ist doch absurd!« sagte Kelly mit einer Vehemenz, die ihn überraschte.
»Wir haben Berufung eingelegt. Aber ich habe kein großes Vertrauen in diesen Prozeß. Jetzt nicht mehr.«
»Wieso sind Sie denn zum Sündenbock geworden?« fragte Kelly. »Was ist mit den anderen Ärzten und mit der Klinik? Wurden die nicht auch verklagt?«
»Sie sind alle ausgeschieden«, erzählte Jeffrey. »Ich hatte vor ein paar Jahren ein kurzes Morphiumproblem. Die übliche Geschichte: Ich hatte es verschrieben bekommen, wegen einer Rückenverletzung, die ich mir bei einem Fahrradunfall zugezogen hatte. Während des Verfahrens wurde angedeutet, ich hätte mir kurz vor der Anästhesie Morphium injiziert. Dann fand jemand eine leere Ampulle 0,75prozentiges Marcain im Müllbehälter des Narkoseapparates, den ich benutzt hatte - und 0,75prozentiges Marcain ist bei Entbindungsanästhesie kontraindiziert. Die 0,5prozentige Ampulle hat niemand gefunden.«
»Aber Sie haben kein 0,75prozentiges benutzt, oder?«
»Ich kontrolliere immer das Etikett, wenn ich ein Medikament gebe«, antwortete Jeffrey. »Doch das ist ein Reflexverhalten, an das man sich im speziellen Fall nur schwer zu erinnern vermag. Ich kann nicht glauben, daß ich 0,75 Prozent gegeben haben soll. Aber was kann ich sagen? Sie haben gefunden, was sie gefunden haben.«
»He, fangen Sie nicht an, an sich selbst zu zweifeln. Das war es, was Chris getan hat.«
»Das sagt sich so leicht.«
»Wofür verwendet man 0,75prozentiges Marcain?« fragte Kelly.
»Für so einiges«, sagte Jeffrey. »Wann immer man einen besonders lange anhaltenden Block mit wenig Volumen braucht. In der Augenchirurgie wird es viel verwendet.«
»Hatte es in dem OP, in dem Ihnen der Unfall passierte, denn eine Augenoperation gegeben? Oder sonst irgend etwas, wobei man 0,75prozentiges Marcain gebraucht hätte?«
Jeffrey überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube nicht. Aber sicher weiß ich es natürlich nicht.«
»Könnte sich lohnen, da mal nachzuforschen«, meinte Kelly. »Rechtlich gesehen dürfte es nicht viel bedeuten, aber wenn Sie wenigstens für sich selbst nachweisen könnten, woher die 0,75-Prozent-Ampulle stammte, würde Ihnen das sehr helfen, Ihr Selbstvertrauen wieder aufzubauen. Ich glaube wirklich, daß Ärzte bei Kunstfehlerprozessen ihr Selbstwertgefühl mit der gleichen Sorgfalt bewahren müssen, die sie auf die Prozeßvorbereitung verwenden.«
»Da haben Sie recht«, sagte Jeffrey, aber er dachte immer noch über Kellys Fragen nach dem 0,75prozentigen Marcain nach. Er konnte nicht fassen, daß niemand auf die Idee gekommen war, sich nach Fällen zu erkundigen, die vor Patty Owen in diesem OP behandelt worden waren. Er hatte jedenfalls nicht daran gedacht. Er fragte sich allerdings, wie er diese Nachforschungen jetzt anstellen sollte, ohne wie früher freien Zugang zur Klinik zu haben.
»Da wir gerade von Selbstwertgefühl reden - wie steht es mit Ihrem?« Kelly lächelte, aber Jeffrey merkte, daß es ihr bei aller scheinbaren Leichtigkeit todernst war.
»Ich habe das Gefühl, ich spreche mit einer Expertin«, sagte er. »Haben Sie nebenher ein bißchen Psychiatrie gelesen?«
»Wohl kaum«, erwiderte sie. »Leider habe ich die Bedeutung des Selbstwertgefühls auf die harte Tour kennengelernt, durch Erfahrung.« Sie nahm einen Schluck Tee. Für einen Augenblick verlor sie sich in ihren eigenen wehmütigen Gedanken; sie starrte aus dem Erkerfenster in den wuchernden Garten. Dann fuhr sie ebenso abrupt aus ihrer kurzen Trance auf. Sie schaute Jeffrey an und lächelte nicht mehr. »Ich bin überzeugt, es lag am mangelnden Selbstwertgefühl, daß Chris Selbstmord beging. Er hätte nicht tun können, was er tat, wenn er mehr von sich
Weitere Kostenlose Bücher