Narkosemord
ihm starken Auftrieb. Mehrere Tage lang brütete er über Pharmakologie- und Physiologiebüchern. Er machte sich massenhaft Notizen. Er arbeitete auch an dem Abend, als er dann… Ich war ins Bett gegangen, und am nächsten Morgen fand ich ihn, eine Infusion am Arm, die Flasche leer.«
»Wie furchtbar«, sagte Jeffrey.
»Es war das schlimmste Ereignis meines Lebens«, bekannte Kelly.
Einen Augenblick lang war Jeffrey neidisch auf Chris - nicht, weil dieser etwas geschafft hatte, was ihm nicht gelungen war, sondern weil er eine Frau hinterlassen hatte, die ihn offensichtlich sehr liebte. Wenn es ihm gelungen wäre - ob auch um ihn jemand so getrauert hätte? Jeffrey bemühte sich, den Gedanken abzuschütteln. Statt dessen dachte er über eine Kontamination des Lokalanästhetikums nach. Ein merkwürdiger Gedanke…
»An was für eine Kontamination dachte Chris denn?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Kelly. »Es ist zwei Jahre her, und Chris hat sich nie detailliert geäußert. Zumindest nicht mir gegenüber.«
»Haben Sie damals mit irgend jemandem über seine Theorie gesprochen?«
»Mit den Anwälten. Warum?«
»Weil es eine faszinierende Idee ist.«
»Ich habe noch seine Aufzeichnungen. Sie können sie lesen, wenn Sie wollen.«
»Ja, das würde ich gern«, sagte Jeffrey.
Kelly stand auf und führte ihn durch die Küche und durch das Eßzimmer, durch die Diele und durch das Wohnzimmer bis zu einer geschlossenen Tür.
»Ich sollte jetzt etwas erklären«, sagte sie. »Das hier ist Chris’ Arbeitszimmer. Ich weiß, wahrscheinlich war es keine schrecklich gesunde Reaktion, aber nach seinem Tod habe ich die Tür einfach zugemacht und alles so gelassen, wie es war. Fragen Sie mich nicht, warum. Damals hat es mir geholfen; es war, als sei ein Teil von ihm noch hier. Also seien Sie darauf gefaßt, daß es vielleicht ein bißchen staubig ist.« Sie öffnete die Tür.
Jeffrey betrat das Arbeitszimmer. Im Gegensatz zum Rest des Hauses war es hier unaufgeräumt und muffig. Eine dicke Staubschicht lag auf allem. Sogar ein paar Spinnweben hingen von der Decke. Die Fensterläden waren fest geschlossen. An einer Wand befand sich ein bis zur Decke reichender Bücherschrank, vollgestopft mit Büchern, die Jeffrey gleich erkannte. Das meiste war Standardliteratur über Anästhesie. Der Rest befaßte sich mit allgemeineren medizinischen Themen.
In der Mitte des Zimmers stand ein alter Schreibtisch, auf dem sich Papiere und Bücher türmten. In der Ecke war ein Eames-Sessel; das schwarze Leder war trocken und rissig. Neben dem Sessel lag ein Stapel Bücher.
Kelly lehnte mit verschränkten Armen am Türpfosten, als wolle sie nicht eintreten. »Ein ziemliches Durcheinander«, sagte sie.
»Es stört Sie nicht, wenn ich mich hier umsehe?« fragte Jeffrey. Er verspürte eine gewisse Verwandtschaft zu seinem toten Kollegen, wollte aber Kellys Gefühle nicht verletzen.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, antwortete sie. »Ich habe ja gesagt, ich habe seinen Tod endlich akzeptiert. Schon seit einer Weile habe ich vor, das Zimmer aufzuräumen. Ich bin bloß noch nicht dazu gekommen.«
Jeffrey ging um den Schreibtisch herum. Eine Lampe stand darauf; er knipste sie an. Er war nicht abergläubisch, und er glaubte nicht an übernatürliche Dinge. Trotzdem hatte er das Gefühl, Chris versuche ihm etwas zu sagen.
Auf der Schreibunterlage war ein vertrautes Lehrbuch: Pharmacological Basis of Therapeutics von Goodman und Gillman. Daneben sah er Clinical Toxicology. Bei den Büchern lag ein Stapel handschriftlicher Notizen. Jeffrey beugte sich über den Schreibtisch und sah, daß der Goodman/Gillman bei dem Kapitel über Marcain aufgeschlagen war. Die potentiellen schädlichen Nebenwirkungen waren dick unterstrichen.
»Ging es in Chris’ Fall denn auch um Marcain?« fragte er.
»Ja«, sagte Kelly. »Ich dachte, das wußten Sie.«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Jeffrey. Er hatte nicht erfahren, welches Lokalanästhetikum Chris benutzt hatte. Komplikationen kamen bei allen gelegentlich vor.
Jeffrey nahm den Stapel Notizen zur Hand. Beinahe sofort kitzelte es in seiner Nase, und er mußte niesen.
Kelly legte den Handrücken an die Lippen, um ein Lächeln zu verbergen. »Ich habe Sie gewarnt, daß es staubig sein würde.«
Jeffrey nieste noch einmal.
»Nehmen Sie sich doch, was Sie brauchen, und wir gehen wieder ins andere Zimmer«, sagte Kelly.
Mit Tränen in den Augen nahm Jeffrey die beiden Lehrbücher und die Notizen, und er
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