Narkosemord
spazierte er die ehemals eleganten Flanierwege entlang; Granitbalustraden und Treppen kündeten von vergangenem Glanz. Jetzt war alles bewachsen und ungepflegt. Der Fluß war hübsch anzusehen, aber er war schmutzig und verströmte einen sumpfigen Geruch. Zahllose kleine Segelboote sprenkelten die funkelnde Wasserfläche.
An der Esplanade vor der Hatch Shell, der Freiluftbühne, auf der die Boston Pops im Sommer ihre Gratiskonzerte gaben, setzte Jeffrey sich auf eine der Parkbänke vor einer Reihe Eichen. Er war nicht allein. Zahlreiche Jogger, Frisbee-Spieler, Powerwalker und sogar Rollschuhfahrer bevölkerten die Wege und Rasenflächen.
Obwohl das Tageslicht noch ein paar Stunden anhalten würde, schien die Sonne unvermittelt an Kraft zu verlieren. Hoher Wolkendunst deutete auf einen Wetterumschwung hin. Wind kam auf, und kühle Luft wehte vom Wasser her. Fröstelnd schlang Jeffrey die Arme um sich.
Um elf mußte er im Memorial zur Arbeit erscheinen. Bis dahin konnte er nirgends hin. Wieder dachte er an Kelly und daran, wie wohl er sich in ihrem Haus gefühlt hatte. Es war so lange her, daß er sich irgend jemandem anvertraut, so lange her, daß irgend jemand ihm zugehört hatte.
Jeffrey fragte sich, ob er doch noch nach Brookline fahren sollte. Hatte Kelly ihn nicht ermuntert, Kontakt mit ihr zu halten? Wollte sie nicht Chris rehabilitieren? Auch sie hatte schließlich einen Anteil an diesem Spiel. Damit war Jeffrey überzeugt. Er brauchte wirklich Hilfe, und Kelly war anscheinend bereit, sie ihm zu geben. Sie hatte gesagt, sie sei bereit dazu. Natürlich war das vor diesen jüngsten Entwicklungen gewesen. Er würde ganz offen zu ihr sein und ihr erzählen, was passiert war - auch, daß man auf ihn geschossen hatte. Er würde sie vor die Wahl stellen, und er würde verstehen, wenn sie sich von jetzt an heraushalten wollte, weil O’Shea wieder mit von der Partie war. Aber wenigstens einen Versuch konnte er wagen. Sie war schließlich erwachsen und in der Lage, selbst zu entscheiden, was sie riskieren wollte.
Am besten, dachte er, fuhr er mit der Bahn von der Charles Street zu Kelly. Er fiel in Laufschritt, als er sich vorstellte, wie er mit Kelly auf ihrer Couch saß, die Füße auf dem Tisch, und wie sie ihr kristallenes Lachen lachte.
Carol Rhodes war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Es war ein anstrengender, aber produktiver Tag gewesen. Sie hatte jetzt den größten Teil ihrer Klienten anderen Kollegen in der Bank übergeben, da sie mit ihrer Versetzung nach Los Angeles rechnete. Nachdem der Wechsel monatelang immer wieder aufgeschoben worden war, hatte sie schon bezweifelt, daß es überhaupt je dazu kommen würde. Aber jetzt war sie zuversichtlich: Nicht mehr lange, und sie wäre im sonnigen Südkalifornien.
Sie öffnete den Kühlschrank und schaute nach, was sie sich zum Abendessen machen könnte. Ein kaltes Kalbskotelett war noch da, von dem Abendessen, das sie neulich für Jeffrey gemacht hatte. Wie schön ihr diese Mühe gedankt worden war! Salatzutaten waren auch noch reichlich vorhanden.
Bevor sie das Abendbrot in Angriff nahm, schaute sie nach dem Anrufbeantworter. Niemand hatte eine Nachricht hinterlassen. Von Jeffrey hatte sie den ganzen Tag nichts gehört. Sie fragte sich, wo, zum Teufel, er sein mochte und was er im Schilde führte. Erst heute hatte sie erfahren, daß Jeffrey das Geld behalten hatte, das er bei der Erhöhung der Hypothek hatte herausschlagen können. Fünfundvierzigtausend in bar. Was hatte er vor? Wenn sie gewußt hätte, daß er sich derart verantwortungslos aufführen würde, hätte sie den neuen Hypothekenvertrag niemals unterschrieben. Dann hätte er sein Revisionsverfahren im Gefängnis abwarten können. Hoffentlich war wenigstens die Ehescheidung endgültig. Inzwischen fragte sie sich schon, was sie an dem Mann eigentlich so attraktiv gefunden hatte.
Sie hatte Jeffrey kennengelernt, als sie von der Westküste, wo sie in Stanford studiert hatte, nach Boston zur Harvard Business School gekommen war. Vielleicht hatte sie sich zu Jeffrey hingezogen gefühlt, weil sie so einsam gewesen war. Sie hatte in einem Wohnheim in Allston gewohnt und keine Menschenseele gekannt, als sie sich begegnet waren. Nie und nimmer hatte sie damals in Boston bleiben wollen. Es war so provinziell, verglichen mit Los Angeles, und die Leute hier fand sie so kalt wie das Klima.
Na, noch eine Woche, und das alles würde hinter ihr liegen. Mit Jeffrey würde sie durch ihren Anwalt
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