Narkosemord
Bad; vermutlich hatte der Kerl die meisten Toilettenartikel mitgehen lassen. Er nahm einige Blätter des Notizpapiers vom Nachttisch. Der Name Christopher Everson war darauf gedruckt. Und wieder fragte er sich, wer Christopher Everson war.
Nach seiner eiligen Flucht war Jeffrey in der Bostoner City rumgelaufen; jedem Polizisten, den er gesehen hatte, war er aus dem Weg gegangen. Er hatte das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden. So ging er in das Kaufhaus Filene’s. Im Gedränge fühlte er sich sicherer. Er tat, als stöbere er herum, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte und überlegen konnte, was er nun anfangen sollte.
Nach etwa einer Stunde bemerkte er, daß das Sicherheitspersonal ihn beobachtete, als hätten sie Grund, ihn für einen Ladendieb zu halten.
Er verließ das Kaufhaus und ging die Winter Street hinauf zum Bahnhof Park Street. Die Rushhour war in vollem Gange. Jeffrey beneidete jeden einzelnen der Pendler, die nach Hause hasteten. Er wünschte, auch er hätte ein Zuhause, wohin er hätte fahren können. Er lungerte vor einer Reihe Telefonzellen herum und sah der Parade der Passanten zu. Aber als zwei berittene Polizisten auftauchten, die gegen den Verkehrsstrom auf der Tremont Street herankamen, zog er es vor, sich in den Boston Common zu verdrücken. Einen Moment lang fühlte er sich versucht, mit den Pendlern zusammen in den Bahnhof hinunterzugehen und die Green Line nach Brookline zu nehmen. Aber dann sah er ein, daß das nicht ging.
Gern wäre er geradewegs zu Kelly gefahren. Die Erinnerung an ihr gemütliches Haus war zu verlockend. Der Gedanke an eine Tasse Kaffee mit ihr war verführerisch. Wenn die Dinge nur anders lägen! Aber Jeffrey war ein verurteilter Krimineller auf der Flucht. Er war ein Obdachloser, der ziellos durch die Stadt streunte. Von den anderen unterschied er sich nur dadurch, daß er einen Haufen Geld in seiner Reisetasche mit sich herumschleppte.
Sosehr er sich danach sehnte, zu Kelly zu gehen, es widerstrebte ihm doch, sie in diesen Strudel von Schwierigkeiten hineinzuziehen, zumal er auch noch einen geistesgestörten und bewaffneten Kopfgeldjäger auf den Fersen hatte. Jeffrey wollte Kellys Sicherheit nicht aufs Spiel setzen. Er durfte ein Monstrum wie O’Shea nicht zu ihrer Haustür führen. Mit Schaudern erinnerte er sich an die Schüsse.
Aber wohin konnte er gehen? Würde O’Shea nicht alle Hotels der Stadt durchkämmen? Und Jeffrey begriff plötzlich, daß seine Verkleidung ihm jetzt nichts mehr nützen würde, nachdem der Kerl ihn gesehen hatte. Nach allem, was geschehen war, fahndete man womöglich schon mit einer neuen Personenbeschreibung nach ihm.
Jeffrey ging zur Ecke Beacon und Charles Street und dort die Charles Street hinauf zu einem Lebensmittelgeschäft namens Deluca’s; Jeffrey trat ein und kaufte ein wenig Obst. Er hatte an diesem Tag noch nicht viel gegessen.
Kauend wanderte er weiter. Mehrere Taxis fuhren vorbei, und er blieb stehen. Er blickte den Taxis nach, und in seinem Kopf erschien auf einmal die Erklärung für O’Sheas plötzliches Auftauchen. Es mußte der Taxifahrer gewesen sein, der Jeffrey vom Flughafen ins Essex gebracht hatte. Wahrscheinlich war er zur Polizei gegangen. Wenn Jeffrey es sich recht überlegte, mußte er zugeben, daß er sich in der Tat ein bißchen merkwürdig benommen hatte.
Aber wenn der Taxifahrer zur Polizei gegangen war, wieso war dann O’Shea erschienen und nicht die Polizei? Jeffrey ging weiter, doch die Frage beschäftigte ihn. Schließlich kam er zu dem Schluß, daß O’Shea sich wahrscheinlich auf eigene Faust bei den Taxifahrern erkundigt hatte. Das bedeutete, daß O’Shea nicht nur eine furchterregende Erscheinung war, sondern auch einfallsreich, und wenn das so war, dann war Jeffrey gut beraten, vorsichtiger zu sein. Allmählich lernte er, daß es Mühe und Erfahrung erforderte, als Flüchtling erfolgreich zu sein.
Am Charles Circle, wo die Bahn unter dem Beacon Hill hervorkam und über die Longfellow Bridge fuhr, blieb Jeffrey stehen und überlegte, in welche Richtung er jetzt gehen sollte. Er konnte nach rechts in die Cambridge Street einbiegen und wieder in die Stadt zurückkehren. Aber das klang nicht sehr verlockend, da er die Stadt jetzt mit O’Shea assoziierte. Er blinzelte in die Sonne und sah die Fußgängerbrücke, die über den Storrow Drive zum Charles Street Embankment am Charles River führte. Das wäre so gut oder so schlecht wie jedes andere Ziel.
Am Fluß
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