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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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Zeit. Lauf los und beeil dich!«
    Der Kopf verschwand und Kurecka wandte sich nach vorne, zur Stirnseite des seltsamen unterirdischen Gewölbes. Im Halbdunkel sah er so etwas wie einen niedrigen Altar, auf dem etwas Helles zu liegen schien. Neugierig trat der Baggerfahrer näher und erstarrte mitten in der Bewegung. Vor ihm, hingestreckt auf einem kleinen Podest, lag regungslos eine nackte Frau, die blonden Haare blutverschmiert. Kurecka wollte schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Erst wich er zurück, bekreuzigte sich und wollte zurück zu seinem Bagger stürzen, dann überlegte er es sich. Mit drei schnellen Schritten stand er neben der Frau, ging in die Hocke und berührte sie vorsichtig am Bein. Sie war eiskalt. Da endlich drehte Kurecka sich um und lief zurück zum Liebherr, an dessen Ausleger der erste Arbeiter herunterkletterte.
    »Polizei!«, schrie Kurecka so laut er konnte nach oben. »Ruft sofort die Polizei! Hier liegt eine tote Frau!«
    13. März 1848, Hofburg, Wien/Österreich
    D as Gespann des Hof- und Staatskanzlers rumpelte über das Kopfsteinpflaster des Kohlmarkts und sein Insasse, Fürst Clemens Wenceslaus Lothar von Metternich-Winneburg zu Beilstein, den man im Volksmund den »Peitschenknaller Europas« nannte, ärgerte sich über die immer schlechter werdenden Straßen in der Reichshauptstadt. Während sein altgedienter Kutscher die lange Gerte über die Rücken der Pferde knallen ließ und sie mit aufmunternden Zurufen anfeuerte, ging es holpernd, aber zügig der Hofburg entgegen.
    Metternich zog seine Taschenuhr aus dem Rock, und nachdem er gesehen hatte, wie spät es war, klopfte er drei Mal neben sich an die Wand des Vierspänners. Ein Zeichen für seinen Kutscher, keine Zeit zu verlieren. Die eiligst einberufene Sitzung der »Geheimen Staatskonferenz« im Kaiserpalast würde in zehn Minuten beginnen und Metternich fürchtete, im Ernstfall auch ohne ihn. Er war nicht mehr unentbehrlich wie noch dreißig Jahre zuvor.
    Der alte Kanzler betrachtete sein Spiegelbild im Fenster der schaukelnden Karosse. Alt bin ich geworden, dachte er, alt und schwach. Je mehr Jahre vergingen, desto öfter dachte er an seinen langjährigen Weggefährten Jauerling.
    Ob ich meinen fünfundsiebzigsten Geburtstag noch erleben werde, fuhr es ihm durch den Kopf und gleichzeitig ärgerte er sich darüber, dass gerade jetzt, am Ende seines Weges und seiner Kräfte, die schlimmsten Befürchtungen Gestalt annahmen. Metternich schob die Vorhänge der Kutsche zur Seite und beobachtete misstrauisch die Gruppen von diskutierenden Menschen, die sich an Häuserecken und Hauseinfahrten zusammengerottet hatten. Ihre zornigen Blicke, die seinem Wagen folgten, spürte der alte Mann fast körperlich.
    »Wie ich es mir schon vor achtzehn Jahren gedacht habe«, murmelte er, »alle haben sich am französischen Revolutionsfieber angesteckt.« Plötzlich lief ein kleiner Junge neben dem Wagen her, blieb wieder zurück, hob einen Pferdeapfel auf und schleuderte ihn schließlich mit aller Kraft nach der fürstlichen Kutsche mit den Familienwappen an den Türen.
    »Fürst Mitternacht! Fürst Mitternacht!«, quietschte er dabei mit seiner dünnen Stimme. Das Geschoss verfehlte sein Ziel, aber zahlreiche Männer und Frauen applaudierten und stimmten in die beschämenden Rufe mit ein. Metternich zog die Vorhänge wieder vor. Er hätte am liebsten den Vorhang vor die ganze Welt gezogen, um nichts mehr sehen zu müssen.
    »Wenn ich den Schmierfinken, der diesen Spottnamen erfunden hat, zwischen die Finger bekomme, lass ich ihn umgehend in die Festung Spielberg verfrachten«, knurrte der Kanzler und griff zu dem Stapel Papier, den sein Diener vor der Abfahrt neben ihm auf der Sitzbank platziert hatte. Spitzel- und Polizeiberichte, Dutzende davon, aus allen Provinzen und Kronländern des Reiches. Sie verkündeten im Grunde alle dasselbe: Aufstand.
    Besorgt legte Metternich die Stirn in Falten und blätterte in den beängstigenden Reports über sich formierende Aufständische in Böhmen, Revolten in Ungarn und Unruhen in den oberitalienischen Provinzen. Unbewusst griff der alte Mann mit der freien Hand an seinen Hals. Die unsichtbare Schlinge begann sich zuzuziehen. Metternich las die Abschrift jener »Taufrede der österreichischen Revolution«, die ein gewisser Ludwig Kossuth vor zehn Tagen in Pest verlesen hatte. Gemeinsam mit den zahlreichen Versammlungsprotokollen liberaler Vereine, die eine Verfassung von ihm forderten, und den

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