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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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»Im zweiten Stock. Soll ich Sie hinaufführen?«, sagte er, und als die Männer eine einladende Handbewegung machten, ging er voraus.
    Je weiter sie in dem Gebäude nach oben stiegen, umso wärmer wurde es. Gruschenko öffnete eine intarsierte Tür und ein weiter Saal erstreckte sich vor den Männern. Durch die Holzjalousien fiel das Licht in Streifen in den Raum und Staub tanzte in den Sonnenstrahlen. Es roch nach altem Papier und vertrockneten Schicksalen.
    Hunderte von Kisten standen an den Wänden, manchmal fünf oder sechs übereinander. Sie trugen als Brandzeichen Hammer und Sichel und Nummern, die selbst für Gruschenko keinen Sinn ergaben, weil eine Liste fehlte.
    »Hier liegen die Kisten aus der Zarenzeit, meine Herren, und zwar nur die internationale Korrespondenz zwischen 1800 und der Revolution, die Privatkorrespondenz der Zarenfamilie und die Berichte der ausländischen Botschaften, die zugleich Spitzeldienste für die Geheimpolizei erledigten. Dieser Teil kam aus dem Staatlichen Archiv der Russischen Föderation vor rund fünfzehn Jahren.« Der Oberarchivar verstummte, als er die ungläubigen Blicke der Männer sah.
    »Moment«, sagte einer der Besucher und packte Gruschenko am Arm, »wollen Sie damit sagen, dass alles das …«
    »… noch nicht aufgearbeitet ist, ganz genau«, vervollständigte der Archivar den Satz. »Und es auch in den kommenden zwanzig Jahren nicht sein wird, wenn nicht bald etwas geschieht.«
    »Wir suchen ein österreichisches Dokument …«, versuchte es einer der Männer nochmals, aber Gruschenko zuckte nur mit den Schultern.
    »Dann sind Sie vielleicht genau am richtigen Platz, meine Herren, vielleicht auch nicht«, meinte er und deutete mit einer umfassenden Handbewegung auf die gestapelten Kisten. Die Männer sahen sich an und nach einer kurzen Pause holte einer von ihnen sein Handy aus dem Anzug und wählte, während Gruschenko sich zwischen den Stapeln von Kisten durchschlängelte und an eines der hohen Fenster trat. Er öffnete die Flügel und frische Luft strömte in den Saal.
    »Können Sie mir sagen, was das Dokument für einen Inhalt haben soll? Wie es aussieht, von wem es sein soll oder an wen es gerichtet war?« Der Archivar schaute die Männer fragend an, aber die schwiegen und warteten. Einer von ihnen telefonierte noch immer und hörte seinem Gesprächspartner aufmerksam zu. In der Ferne erklang die Sirene einer Polizeistreife.
    »Wollen Sie mir erklären, dass es nicht möglich ist, eindeutig festzustellen, ob dieses verdammte Dokument nun in diesem Archiv ist oder nicht?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang gereizt und ungläubig. »Was ist das für ein Sauhaufen? Wir müssen dieses Schriftstück finden, koste es, was es wolle. Wir recherchieren nun bereits seit Jahren und wissen definitiv, wo es nicht liegt. Es bleibt nur eine Möglichkeit: Das Sonderarchiv in der Vyborgskaja Ulija.«
    Der Mann im Moskauer Archiv verdrehte die Augen. »Dann kommen Sie am besten mit hundert Mann und jeder Menge Zeit«, antwortete er unbeeindruckt. »Hier stehen Kisten über Kisten, bis an die Decke gestapelt, ungesichtet und alle randvoll mit Papier.«
    »Aber wir haben keine Zeit«, schrie sein Gesprächspartner verzweifelt. »Ich biete Ihnen Geld so viel Sie wollen, bestechen Sie den Archivar, kaufen Sie das Archiv …«
    »Ach, halten Sie doch den Mund, Sie haben mir gar nicht zugehört«, erwiderte der Mann ungehalten. »Selbst wenn Sie mir einen Staatsetat bieten würden, wäre es vergebens. Begreifen Sie nicht? Wir könnten das Archiv anzünden, wenn Sie wollen, und so das Dokument vor jedem Zugriff schützen …«
    »Nein! Was fällt Ihnen ein! Niemals, Sie Idiot«, unterbrach ihn der Mann mit einem panischen Unterton in der Stimme, »denken Sie nicht einmal daran.« Im Hintergrund hörte der Mann von der Sicherheitsfirma aufgeregte Stimmen in einer fremden Sprache. Ihm erschien es wie Deutsch mit einem seltsamen Akzent. Dann war sein Gesprächspartner wieder in der Leitung. »Wie haben Sie sich das vorgestellt, das Dokument vor jedem Zugriff zu schützen? Indem Sie es verbrennen? Das wäre das genaue Gegenteil von dem, was wir gerade versuchen. Wir brauchen dieses Dokument. Wenn es vernichtet wird, dann …« Die Stimme des Mannes verebbte und für einen Moment war nur mehr das Geräusch der Statik in der Leitung, »… dann wäre alles umsonst gewesen.«
    Der Mann im dunklen Anzug sah Gruschenko an, dann die gestapelten Kisten mit den rabenschwarzen,

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