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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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hatte die lange Reise der Dokumentenkisten durch die Moskauer Archive mitgemacht, wobei ihre Zahl besorgniserregend angeschwollen war. Was als ein einziger Lkw begonnen hatte, war zu einer Kolonne angewachsen, als das Archiv schließlich das Gebäude in der Vyborgskaja-Straße bezogen hatte.
    Gruschenko schüttelte den Kopf über die Hartnäckigkeit des heutigen Besuchers. Er schien seinen Daumen auf der Klingel geparkt zu haben und der Oberarchivar begann, einen Stromausfall herbeizusehnen. Gruschenko hätte bereits seit mehr als fünf Jahren in Pension sein müssen, aber er war noch immer da. Die Wahrscheinlichkeit von Lohnzahlungen übertraf in Moskau die von Rentenzahlungen bei Weitem und so blieb er im Archiv und hoffte das Beste. Vielleicht würden seine Vorgesetzten ihn ja vergessen, so wie sie scheinbar das Archiv vergessen hatten.
    Seufzend machte sich der Oberarchivar auf den Weg, als ihm klar geworden war, dass der Besucher wohl nicht aufgeben würde. Er stieg die breiten Marmortreppen hinunter, die von Büsten der russischen Zaren gesäumt waren, und blieb vor der massiven Doppelflügeltür aus Holz stehen. Vielleicht …, hoffte er ein letztes Mal, aber der Besucher dachte nicht einmal daran. Also öffnete Gruschenko das Tor und erblickte vor sich vier Männer in dunklen Anzügen, die ihn ungeduldig ansahen. Am Straßenrand war der gepanzerte Transporter einer Moskauer Sicherheitsfirma geparkt und ein weiterer Mann in einer paramilitärischen Uniform lehnte rauchend am Wagen.
    »Ja, bitte?«, sagte der Oberarchivar unverbindlich, »das Militärarchiv ist ein Haus weiter, gehen Sie einfach die Straße hinunter, Sie sehen es gleich.« Er wollte die Türe schließen, aber einer der Männer schob ihn mit der flachen Hand in das Gebäude zurück. Seine drei Begleiter folgten ihm wie selbstverständlich und schlossen die Tür.
    »Wir wollen doch kein Aufsehen erregen, nicht wahr, Anatolij? Nehmen Sie an, wir wissen genau, was wir suchen, und Sie müssen es nur mehr für uns heraussuchen. Wir sind einfache Kunden. Schnell rein, schnell wieder raus.« Die Stimme des Mannes klang kalt und unpersönlich. Während er sprach, sah er sich im Treppenhaus um. Es war ein schneller, professioneller Blick. Keine Kameras, keine Alarmanlagen, keine weiteren Angestellten in Sicht. Was hatte er erwartet? Das war ein vergessenes Archiv in einem ruhigen Stadtteil und nicht der Job, den sie normalerweise hatten. Nichts als Tonnen von Papier, Stockwerke voll. Er seufzte und schaute Gruschenko an. Noch so ein Simpel, urteilte er, und deutete auf die Treppen. »Gehen Sie vor, Anatolij. Wir möchten in Ruhe mit Ihnen reden.« Teilnahmslos trottete Gruschenko vor ihm her, offenbar völlig verwirrt und eingeschüchtert.
    Die Teekanne pfiff mit einem durchdringenden Geräusch, als der Oberarchivar die Tür zu seinem Büro aufstieß und gefolgt von den vier Männern den großen, lichtdurchfluteten Raum betrat. Überall standen Kisten und Kartons, aus den Sternparketten waren vor langer Zeit Bretter gerissen und nie mehr ersetzt worden.
    »Haben Sie einen Computer, Anatolij?«, fragte einer der Männer und blickte sich rasch um, bevor er mit einem Handgriff die Heizplatte abdrehte. »Das würde unsere Suche erleichtern und wesentlich abkürzen.« Gruschenko sah ihn an, als habe er den Verstand verloren.
    »Entschuldigen Sie, meine Herren, aber ich glaube, Sie verkennen die Lage völlig. Hier gibt es nicht einmal einen Pförtner, kein Geld für die Reparatur der Büros, geschweige denn für eine funktionierende Heizung oder einen ordentlichen Samowar. Und Sie denken an einen Computer?«
    Einer der Männer stand vor einer Wand von Karteikästen, die Hunderte Laden aufwiesen. Er zog eine davon auf. Sie war leer. Der Oberarchivar zuckte entschuldigend mit den Schultern und deutete auf die umstehenden Kisten. »Wir versuchen seit Jahren Studenten zu bekommen, die uns bei der Sichtung der Dokumente behilflich sind. Aber ohne Geld …« Er ließ den Satz unvollendet.
    Ungeduldig trommelte einer der Männer mit den Fingern auf die Metallkästen. »Sie sind doch der Oberarchivar, Anatolij?«
    Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und Gruschenko nickte eifrig. »Selbstverständlich bin ich das, wollen Sie mein Dekret sehen?«
    Der Mann winkte ab. »Ersparen Sie uns das, Väterchen. Wir suchen Akten aus der Zarenzeit und wir wissen, dass sie in dieses Archiv eingegliedert wurden. Also. Wo sind sie?«
    Gruschenko kicherte leise vor sich hin.

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