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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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aus dem Falz und entfaltete es dann behutsam.
    Im hellen Licht zweier Taschenlampen sah man die Zeilen einer gestochen scharfen Handschrift auf dem eng beschriebenen Blatt. Georg beugte sich vor und begann laut zu lesen.
    Wien, den 20. März 1848
    »Mein geschätzter Freund Balthasar,
    ich schreibe Dir, obwohl Du nun bereits lange nicht mehr am Leben bist. Aber heute, mit 74 Jahren, am Ende meiner Zeit in Österreich, fällt mir das Schreiben an die Toten leichter als das Gespräch mit den Lebenden. Alles ist so gekommen, wie Du es vorhergesagt hast, alles hat sich verändert, die Welt hat sich gedreht und von ganz oben ist es rasch nach ganz unten gegangen. Jetzt, im hohen Alter, bin ich im freien Fall und in wenigen Tagen werde ich Wien verlassen, wahrscheinlich in Richtung London. Nein, es ist keine freiwillige Reise, es ist eine Flucht. Wien ist mir verhasst geworden. Der Volksmund nennt mich den ›Peitschenknaller Europas‹ und ›Fürst Mitternacht‹ und eben genau dieser Volksmund wird hier bald das Sagen haben.
    Während ich schreibe und in der Dachstube sitze, die Dir so lange zur Heimat geworden war, versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Ich bin alt geworden, dünn und gebrechlich, schwach und entbehrlich. Jetzt verstehe ich nur zu gut, wie Du Dich gefühlt haben musst, am gleichen Platz, vor nunmehr fast dreißig Jahren. Ich bin so müde wie Du damals, mein Freund. Die alte Ordnung, an die wir so bedingungslos geglaubt haben, wird bald der Vergangenheit angehören. Auf den Straßen und an den Häuserecken rotten sich immer mehr Menschen zusammen, Flugblätter werden gedruckt und paketweise verteilt. Sie rufen nach einer Verfassung, zu mehr Freiheit und zu Reformen. Überall werden die Aufstände immer offener, unverfrorener, respektloser. Nach der wahnwitzigen Erklärung des Kaisers wittern die revolutionären Elemente Morgenluft, sind angesteckt von »Liberté, égalité et fraternité«. Und es tut mir leid, ich habe nicht das passende Rezept gegen diese Krankheit. Oder nicht mehr die Kraft, es einzusetzen. Mir scheint, die Mademoiselle Guillotine hat wieder Durst …
    Aufruhr und Tod liegen in der Luft und der Kaiser, ach der Kaiser ist zu schwach, der Hof auf der Flucht. Sie überlassen dem Pöbel die Straßen und die Argumente. Ferdinand I., dieser Kretin von Gottes Gnaden, ist nur mehr eine Parodie, eine Karikatur. Oder vielleicht doch nicht? Weißt Du, mein lieber Balthasar, manchmal kommen mir Zweifel, da glaube ich, er sieht mehr, als wir ahnen. So wie du. Blind warst du sehender als die meisten.
    Ach ja, dann ist da noch Sophie, die gierige Schwägerin des Kaisers, die Frau des schwachen Franz Karl. Sie hätte alle Talente einer Mätresse. Bei wie vielen Adeligen sie ihre Beine breit gemacht hat, ist nicht überliefert. Dafür aber bleiben jede Menge Zweifel über die Herkunft ihrer Kinder. Man sagt, dass ihr Mann, der Bruder des Kaisers, nie mit ihr geschlafen habe. Aber woher kommen, so frage ich Dich, dann ihre Kinder? Sind sie wirklich von verschiedenen Vätern, aber keines von ihm? Dann allerdings, mein Freund, dann haben wir ein ernstes Problem. Entweder wir setzen mit Franz Joseph einen Wasa auf den Thron oder mit Max einen Napoleon. Was für eine Wahl!
    Am Schluss war Kaiser Ferdinand ans Fenster getreten und hatte seinem jubelnden Volk zugerufen: »Ich gewähr euch alles! Ich gewähr euch alles!« Dieser Schwachsinnige! Seine Tage sind glücklicherweise gezählt. Alles bricht auseinander und die Welt gerät aus den Fugen.
    Wie recht hattest du doch mit deiner Rückversicherung, mein kluger Balthasar. Wir haben den besten Augenblick und die richtigen Adressaten gewählt. Der Wiener Kongress tanzte, aber wir bereiteten den Boden für die Zukunft vor. Vier Wege zum Wissen, vier Bausteine des Geheimnisses. Und doch – der doppelte Boden war eine geniale Idee von Dir. Wie alles, was Du geplant hast, wird auch dieses Konstrukt die Jahrhunderte überdauern, bis die Zeit kommen wird …
    Ich hatte mich entschlossen, vor meiner Abreise nach London doch nach Wetzdorf zu fahren und ihn kennenzulernen. Wer weiß, ob ich jemals wieder nach Wien zurückkehre. Wenn nicht, dann hätte ich mir mein Versäumnis nie verziehen. Ich habe ihn gesehen und gesprochen und Deinen Weitblick bewundert. Mein Exil ist gesichert und es bleibt mir nur mehr, Abschied zu nehmen.
    Dein Archiv ist in guten, in gebenedeiten Händen, mein Freund, auch wenn ich dieses Land verlasse. Es wird bewacht vom Schwert eines

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