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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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jemanden, der als Trauergast in dem Gotteshaus gewesen war und nun wieder heimfahren wollte. Eine Präsidentenwitwe oder ein Regierungsmitglied vielleicht.
    Endlich schwang eine der hinteren Wagentüren auf und ein Mann im dunkelblauen Anzug stieg aus, eine Mappe unter den Arm geklemmt und ein Telefon in der Hand. Er stieg die Stufen zur Kirche hinauf, drehte sich kurz um und warf einen prüfenden Blick zurück über Platz und Allee. Schließlich verschwand er zwischen den Säulen durch die dunkelbraune Tür und betrat durch die Vorhalle und eine weitere Flügeltür die Kirche.
    Im Inneren war es kühl und die hohe Kuppel gab dem Kirchenraum eine luftige Atmosphäre, die durch die hellen, fast weißen Wände noch verstärkt wurde. Die Glasmosaike verströmten einen farbigen, sphärischen Glanz und die Sonne strahlte durch die zahllosen Fenster in der Basis der wuchtigen Kuppelwölbung. Der Geruch von Streichhölzern und abgebrannten Kerzen, gemischt mit einer Ahnung verblassten Weihrauchs lag in der Luft.
    Der Mann sah sich suchend um. Er war das erste Mal hier und die Größe der Kirche erstaunte ihn. Nur wenige Andächtige hatten in den Bänken Platz genommen. Der spätsommerliche Nachmittag war zu verlockend, um länger in einer Kirche zu bleiben. Oder waren es am Ende gar keine Betenden, sondern nur Leute, die Kühle und Erfrischung gesucht hatten, fragte er sich beim Anblick der Touristenkleidung und der entspannten Mienen.
    Schließlich zählte der Mann die Bankreihen und setzte sich in die fünfte vom Altar aus gesehen. Sie war leer. Er hatte es nicht anders erwartet.
    »Wissen Sie, dass die Turmuhr keine Ziffern hat? Eine Besonderheit dieser Kirche. Sie hat stattdessen elf Buchstaben und ein Kreuz an der Stelle der Ziffer zwölf. Im Uhrzeigersinn gelesen ergeben sie die Worte ›Tempus fugit‹, die Zeit vergeht.« Die Stimme des Unbekannten war ganz nahe an seinem Ohr. Er musste hinter ihm Platz genommen haben.
    »Kennen Sie auch die zweite Hälfte des Spruches? Tempus fugit, amor manet. Die Zeit vergeht, die Liebe bleibt.« Ein leises, gedämpftes Lachen ertönte. »Drehen Sie sich lieber nicht um, sonst braucht man Sie nicht mehr weit bis zu Ihrer Einsegnung zu tragen.«
    Der Kurier hatte die Mappe auf seinen Schoß gelegt und senkte nun stumm den Kopf.
    »Sie halten ein Stück geheime Geschichte dieses Landes in Händen, sind Sie sich dessen bewusst? Ich darf Sie ersuchen, die Mappe nun langsam über Ihre Schulter nach hinten zu reichen. Versuchen Sie bitte nichts Unüberlegtes, nicht alle Andächtigen hier sind katholisch … Schon gar nicht die Japaner.«
    Er kicherte kurz über seinen Scherz, wurde aber rasch wieder ernst.
    »Ich würde an Ihrer Stelle auch nicht gerne daran schuld sein, dass dieses Land in den nächsten Wochen Präsidentschaftswahlen ausschreiben müsste. Also?«
    Ohne sich umzudrehen, reichte der Mann im blauen Anzug die Mappe nach hinten. Er hörte ein Rascheln und das Geräusch von Papierblättern, die verschoben wurden.
    »Perfekt! Bleiben Sie noch einige Minuten so sitzen, bis die Kirchenuhr geschlagen hat. Sie wissen ja: Tempus fugit …«
    »… amor manet!«, ergänzte der Bote hastig. Er fühlte plötzlich seinen Tod im Nacken.
    »Sehr richtig!«, quittierte der Fremde vergnügt, tätschelte ihm den Hinterkopf und die Sicherung einer Schusswaffe rastete wieder ein.
    Für einen kurzen Moment glaubte der Mann im blauen Anzug, eine gesummte Melodie gehört zu haben. Aber vielleicht hatte er sich auch geirrt. Die darauffolgende Stille verriet ihm, dass der Unbekannte verschwunden war.
    Der Kurier blieb in der Kirchenbank sitzen, betrachtete die Mosaiken der vier Evangelisten unter dem nachtblauen Sternenhimmel im Kuppelinneren und schaltete schließlich die Aufnahmefunktion in seinem Handy wieder ab.
    Dann blieb sein Blick am Jüngsten Gericht über dem Hochaltar hängen und die goldene Inschrift zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. In großen Lettern stand dort unter einem Symbol, das dieselbe Form wie die Bundespräsidentengruft aus der Vogelperspektive hatte: EGO SUM RESURRECTIO ET VITA – Ich bin die Auferstehung und das Leben.
    Als er langsam zum Wagen zurückging, fragte sich der Mann im blauen Anzug, ob nicht gerade die Boten der Hölle auferstanden waren.
    Universität Wien/Österreich
    G eorg Sina hielt den Zettel in der Hand, den der kleine Johannes auf dem Zentralfriedhof Berner, Burghardt und ihm überbracht hatte. Fassungslos las er die Namen auf der Todesliste

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