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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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wieder und wieder.
    Schon beim ersten Mal hatte er nicht begriffen, was Ireneusz Lamberg auf dem kleinen Stück weißem Papier zu suchen hatte. Wie konnte sein eigenwilliger Besucher von gestern bloß in diese Geschichte verstrickt sein? Doch dann, während der Autofahrt vom Rennweg in Wien zu seiner Burg im Waldviertel war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen: Es ging um das in Seidenpapier gewickelte Päckchen, um das Tagebuchfragment seines Vorfahren!
    Georg hatte sich auf halber Strecke entschlossen, es so schnell wie möglich aus seinem Büro holen. Er hatte den roten Golf gewendet und war sofort zur Universität gerast, fast alle Verkehrsregeln ignorierend. Jede rote Ampelphase hatte wie ein Ackergaul an seinen Nerven gezerrt.
    Endlich war er vor der Universität angekommen, hatte den Golf im Halteverbot stehenlassen und war die Stiegen hinaufgestürmt. Als er dann jedoch vor der Türe des Instituts stand, zögerte er, aufzusperren und einzutreten. Eine unsichtbare Schranke schien ihn zurückzuhalten.
    Georg war unsicher, was ihn in seinem Büro erwarten würde. Waren sein Schreibtisch, seine Regale und die Schränke bereits durchwühlt, lag sein akademisches Leben chaotisch über den Boden verstreut, waren seine Möbel zerschlagen, das Tagebuch zerstört oder geraubt?
    Aber je mehr er darüber nachdachte, umso mehr wurde ihm klar, dass ihn das nicht mehr wirklich kümmerte. Nach all dem, was er bisher erlebt und gesehen hatte, würde ihn der Anblick seines durchsuchten Büros auch nicht mehr erschüttern können.
    Es ist ja doch nur seelenloses Zeug, sagte er sich und stieß mit einem Ruck die Türe auf. Sein Privatleben war sowieso schon komplett zerfranst, was würden ihn also ein paar durchwühlte Schubladen kümmern?
    Doch nach dem ersten prüfenden Blick stellte Sina fest, dass sein Arbeitsplatz sich genau so präsentierte, wie er ihn gestern verlassen hatte. Der Raum war gänzlich unberührt.
    Erst wollte er aufatmen, aber dann traf ihn die Erinnerung wie ein Schlag in die Magengrube, härter als erwartet, und ihm wurde sofort klar, wovor er sich in Wirklichkeit gefürchtet hatte.
    Ihm war, als könnte er in diesem Zimmer, in dieser erstarrten Momentaufnahme eines konservierten Glücksmomentes, noch einen Nachhall von Sharapovas Gegenwart und eine Note ihres Parfüms in der Luft spüren. Georg betrachtete den Boden zwischen den Papierund Aktenstößen und konnte seine Erschütterung nicht länger unterdrücken. Er spürte ihren Körper an den seinen geschmiegt, ihre Wärme, hörte ihre Stimme und ihr Lachen. Dann fühlte er sich plötzlich wieder in den Container zurückversetzt, die tote, kalte und fremde Irina vor sich auf dem Obduktionstisch, sein Magen krampfte sich zusammen und er schluchzte laut. Seit Claras Tod hatte er nicht mehr geweint.
    Langsam machte er ein paar Schritte zu seinem Schreibtisch, ließ sich in seinen Sessel fallen, zog sein durchgeschwitztes Hemd aus, zerriss es und warf es in den Papierkorb. Danach stützte er sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte, verbarg sein Gesicht in den Händen und seine Schultern bebten.
    Georg blieb lange Zeit so sitzen, regungslos. Danach fühlte er sich etwas besser. Er wischte sich die Tränen ab und zog das T-Shirt an, das immer noch auf dem Besucherstuhl herumlag. Gänzlich unerwartet ging ihm ein absurder Gedanke durch den Kopf. Was, dachte er, wenn Lamberg in Wahrheit gar nicht tot war, die Erwähnung seines Namens wieder nur ein Bluff war, um ihn nervös zu machen, ihn dort hinzubekommen, wo man ihn haben wollte?
    Sina fuhr herum und blickte sich um. Seine Augen überflogen die Regale und das Chaos. Er konnte aber nichts Verdächtiges feststellen, alles war wie immer.
    »Langsam, aber sicher schnappe ich über«, sagte er zu sich selbst und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu, wo er nach Lambergs Tagebuch zu kramen begann.
    Siedend heiß fiel ihm etwas Absurdes ein. War Irina vielleicht gar nicht an ihm, sondern an dem Tagebuch interessiert? Er verscheuchte aber den Gedanken gleich wieder. Vielleicht war es besser, nicht allen Dingen auf den Grund zu gehen.
    »Die Wahrheit hat Dutzende Gesichter und viele Facetten, sie sieht verzerrt wie das Auge einer Fliege … Und wir, wir sind die Fliegen am Scheißhaufen des Lebens«, murmelte Georg und zog endlich die Visitenkarte aus dem Konvolut im Seidenpapier, hob den Hörer ab und wählte die ungarische Festnetznummer.
    Er lauschte angespannt, erst nach mehrmaligem Läuten meldete

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