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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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versteckten Gänge der Hofburg, die den gesamten Palast durchzogen. Die kaum einen Meter breiten Gänge verliefen im Inneren der Wände und bildeten ein zweites Kommunikationssystem neben dem offiziellen. Ursprünglich für die Heizer der Öfen mit ihren Holzbutten konstruiert, waren die meisten nun vergessen oder nur mehr auf den alten Plänen eingezeichnet, die Schirach vorsorglich alle requiriert hatte. Manche, die nur durch mündliche Überlieferung von einem Heizer zum anderen weitergegeben wurden, waren gänzlich verschollen. Man hatte sie vor langen Jahren entweder provisorisch verschlossen oder abgemauert.
    Im Stockwerk über seinem Büro, in den sogenannten Thronfolger-Appartements, hatte Schirach gleich zu Beginn seiner Tätigkeit in Wien den Sicherheitsdienst untergebracht. Ursprünglich für Kronprinz Rudolph bestimmt, der sich in Mayerling mit seiner Geliebten erschossen hatte, waren die Räume vorher niemals bewohnt gewesen. Rudolphs Nachfolger, abergläubisch und vorsichtig, hatten die Appartements gemieden. Der Gauleiter hielt nichts von solchen Bedenken. Auch wenn man ihm von der Ostfront zugetragen hatte, dass einige Offiziere aus der Ostmark am 30. Jänner eher der Tragödie in Mayerling als des großen Tages der Partei gedachten, der auf das gleiche Datum fiel …
    Eine kleine geheime Wendeltreppe in der Wand führte direkt in das Büro des Leiters des SD und das war Schirach das Wichtigste. So konnte er unbemerkt hinter der dünnen Geheimtür stehend Konferenzen und Gespräche belauschen.
    Jetzt musste er schnellstens verschwinden, so viel stand fest. Er warf einen Blick auf die Akten auf seinem Schreibtisch, zog die Schubladen auf und überlegte kurz. Nichts wirklich Wichtiges. Er stand auf und wollte zu dem Geheimfach tief im Inneren der Vertäfelung, als ein wildes Klopfen an der Tür ihn stoppte.
    »Ja!«, schrie er unwirsch und seine Sekretärin stürmte aufgeregt herein.
    »Ein Telegramm des Führers, Herr Gauleiter.« Ihre Stimme klang ehrfürchtig.
    Schirach riss hastig die Depesche auf. Der Wortlaut war kurz und klar: »Vorgehet mit brutalsten Mitteln gegen die Rebellen von Wien. Gezeichnet Hitler.«
    »Zu spät«, stieß Schirach hervor, »viel zu spät.«
    Er zerknüllte das Telegramm und warf es achtlos in eine Ecke. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wies er seine Sekretärin aus dem Raum, als auch schon sein Chauffeur in der Tür stand und aufgeregt von einem Fuß auf den anderen trat.
    »Sie dürfen keine Zeit mehr verlieren«, stieß er hervor und deutete alarmiert nach draußen.
    »Ja!«, schrie Schirach, »ja, Teufel noch mal!« Dieses verdammte Dokument! Es blieb einfach keine Zeit mehr. Zehn Minuten, nur zehn Minuten mehr, dachte er, dann griff er nach seinem Uniformrock, warf einen letzten Blick auf das Chaos in seinem Büro. Das Dokument … schoss es ihm noch einmal durch den Kopf, doch dann wischte er den Gedanken hastig beiseite. Er konnte fast körperlich spüren, wie die Russen immer näher kamen. Die Götterdämmerung stand unmittelbar bevor und sie würde auch das Papier Metternichs verschlingen, im Höllenfeuer der Geschichte.
    »Ich kann Ihnen keine sichere Route mehr vorschlagen«, meinte der Fahrer bedauernd, doch Schirach stieß ihn ungeduldig zur Seite.
    »Ich brauche Sie nicht mehr!«, fuhr er ihn an, ging an ihm vorbei und nickte seiner Sekretärin zum Abschied zu. Der SS-Oberscharführer salutierte wieder, als Schirach seine Handschuhe anzog.
    »Irgendwelche Befehle, Gauleiter?«, fragte er dann.
    »Ja, halten Sie Wien bis zum letzten Mann!«, stieß Schirach hervor und verschwand durch die Tür, wich auf dem Korridor einem Soldaten aus, der einen schweren Sack mit Waffen und Munition hinter sich herzerrte, und lief mit großen Schritten die Treppen hinauf.
    Genau für diesen Fall hatte er vorgesorgt. Er bog um die Ecke, betrat einen kleinen Abstellraum, verschloss die Tür hinter sich und schob einen sorgfältig platzierten Schrank zur Seite. Dann verschwand er im Geheimgang dahinter und lief vorsichtig eine Wendeltreppe in die Tiefe.
    Schirach war in den Geheimgängen auf vertrautem Territorium. Gleich nach seiner Bestellung zum Gauleiter und seinem Einzug in die Wiener Hofburg hatte er begonnen, in den Archiven zu stöbern, hatte sich für den Bau und die Geschichte der kaiserlichen Burg im Herzen Wiens interessiert. Eigenhändig hatte er Aktenberge und Pläne gewälzt und nach langen Monaten der Suche hatte er gefunden, was andere nur als Legende abgetan

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