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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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hatten.
    Unter dem geschichtsträchtigen Gebäude der Hofburg wiederholte sich das weitläufige Labyrinth an Räumen, das auch über der Erde manchen Besucher zur Verzweiflung brachte. Unzählige Keller, endlose Gänge, verwinkelte Räume, durch Korridore verbunden, waren wie ein riesiger Maulwurfsbau in Hunderten Jahren nach und nach entstanden, ausgebaut und ständig erweitert worden. Drei, vier und mehr Stockwerke tief reichten die Anlagen, der Weinkeller der Burg war zu einer wahren Legende geworden.
    Schirach folgte dem Gang in die Tiefe, bog nochmals ab und öffnete eine weitere schmale Tür. Er sah sich misstrauisch um, aber wie erwartet war niemand zu sehen. Er bog nicht in die Richtung der Luftschutzkeller ab, sondern nahm aus einer versteckten Nische neben einer unscheinbaren Tapetentüre eine Taschenlampe. Er schaltete sie ein und steckte noch zusätzliche Batterien, die er vorbereitet hatte, in seine Uniformtasche. Dann machte er sich auf den Weg, hinunter in die Unterwelt von Wien.
    Feuchte, abgestandene Luft schlug ihm entgegen, mit dem Geruch alter Fässer und von Weinstein geschwängert. Er lief drei Stockwerke hinunter, immer darauf bedacht, nicht auf den feuchten Stufen auszurutschen. Ein gebrochenes Bein hätte jetzt den sicheren Tod bedeutet.
    Er drang immer tiefer in die Keller vor, vor seinem geistigen Auge den Plan, den er selbst erstellt hatte. Schließlich, am Ende eines Ganges, von dessen Wänden lange weiße Pilzfäden hingen, blieb der Gauleiter stehen und ließ den Kegel seiner Taschenlampe über die Wand huschen. Nichts Besonderes war zu sehen, außer einem rostigen eisernen Rad, das seit Langem keine Funktion mehr hatte und doch …
    Schirach drehte das Rad in einem bestimmten Rhythmus erst links, dann rechts und schließlich schwang ein Teil der Ziegelwand auf und ein schmaler Gang öffnete sich, der sich im Dunkel verlor. Schirach schlüpfte hinein und zog die versteckte Türe hinter sich wieder zu. Keine zehn Meter weiter betrat er einen Tunnel, dessen schiere Größe und Länge ihn immer wieder beeindruckte. Er war so hoch, dass man mit einer Kutsche bequem vierspännig fahren konnte. Doch für ihn begann hier der Fußmarsch. Schirach hoffte, dass kein Bombentreffer seine Flucht vereiteln würde.
    Kaum eine Stunde später bog der Wiener Gauleiter schwer atmend in einen Seitengang ab und stand nach wenigen Minuten vor einer fast schwarzen Holztüre. Er entriegelte sie und drückte sie vorsichtig auf. Zentimeterweise gab sie nach, lautlos drehte sie sich in den Angeln. Als er sicher war, unbeobachtet zu sein, schlüpfte er durch den Spalt in einen kleinen, aber erstaunlich trockenen Keller.
    Die Taschenlampe war schwach geworden und ihr Strahl leuchtete nur mehr fahlgelblich. Er wechselte die Batterien und stieg hinter dem Lichtkegel die letzten breiten Treppen nach oben. Die Erleichterung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Nun lag nur mehr ein doppelflügeliges Tor zwischen ihm und dem nächsten Abschnitt seiner Flucht. Er zog einen großen Schlüssel aus seiner Uniformtasche, sperrte auf und betrat einen der zahlreichen langen Gänge des Schlosses Schönbrunn.
    Vorsichtig blickte er sich um, doch es war niemand zu sehen und so lief er los.
    Die schwarze Mercedes-Limousine in der weitläufigen Stallanlage stand genau da, wo er sie zu Beginn des Jahres platziert hatte, hinter Strohballen versteckt, mit vollem Tank, zusätzlichen Reservekanistern und Zivilkleidung im Kofferraum. Er schloss die Batterie an, drehte den Zündschlüssel und atmete auf, als der Sechszylinder hustend zum Leben erwachte.
    Schirach zog sich um und steckte die Ausweise in seine Brusttasche, die ihn als österreichischen Kurier im Auftrag der Roten Armee legitimierten. Das wichtigste und größte Dokument war kyrillisch geschrieben und trug so viele Stempel, dass sich Schirach fragte, ob die Fälscher es nicht übertrieben hatten.
    Dann fuhr er los, die gewundenen Wege im Schlossgarten bergauf, an der Gloriette vorbei und verließ schließlich das Areal des Schlosses Schönbrunn über das Tirolertor, einem unverschlossenen Seitentor bei der Kammermeierei, im Nordosten der Parkanlage. Niemand hatte ihn kommen gesehen, niemand sah ihn abfahren. Sein Ziel war tatsächlich Tirol im Westen des Landes, in sicherer Entfernung von Wien.
    Baldur von Schirach sollte nie wieder in die österreichische Bundeshauptstadt zurückkehren.
    Flughafen Wien-Schwechat/Österreich
    D er schwarze Wagen der Botschaft wartete bereits

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