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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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Wien/Österreich
    D ie Hölle hatte ihre Pforten geöffnet und all ihre Dämonen ausgespuckt. Jetzt schlichen sie durch die Schatten der Stadt, blutdürstig und hinterhältig. Maxim Michajlowitsch Solowjov dachte an das Gedicht, das er vor langer Zeit in sein Notizbuch geschrieben hatte, in seiner kindlichen Schrift. Inzwischen kam es ihm vor, als sei es in einem anderen Leben gewesen.
    Solowjov hatte einen Weg aus Blut, Tod und Tränen zurückgelegt, bis er hierhergekommen war, in dieses Wien des Frühjahrs 1945. Er war dem Teufel begegnet und er hatte zu Gott gebetet. Er hatte Menschen erschossen und über einem Bild seiner Mutter deswegen stundenlang geweint. Solowjov schlief nicht mehr. Seine Albträume waren ständige Begleiter, und sobald es dunkel wurde, schüttelten sie ihn und fraßen sich erst in seine Gedanken und dann in seine Eingeweide.
    Ich bin verflucht, dachte er, als er das Gewehr fester fasste und um die zerschossene Häuserecke schaute. Seine Augen waren rot und das Gesicht ausgezehrt wie das eines Bettlers auf den Straßen Moskaus.
    Die Querschläger eines deutschen Maschinengewehrs pfiffen durch die Dämmerung. Morgengrauen. Für Solowjov war es der blanke Horror. Vor ihm lag die Leiche seines Freundes Aleksis, dem der halbe Schädel fehlte. Er zwang sich, nicht hinzusehen. Die Tränen würden später kommen.
    Über seinem Kopf heulten die Granaten der deutschen Verteidiger, die einen todbringenden Hagel aus unsichtbaren Stellungen auf die angreifende russische 6. Panzergarde-Armee abfeuerten.
    Solowjov wusste nicht genau, wo er war. Ein schmutziger Straßenzug sah aus wie der nächste, der Strom in der Stadt war abgeschaltet worden, so schien es, und jetzt tappten sie alle im Halbdunkel.
    Einige fast gleichzeitig geworfene Handgranaten brachten mit einer gewaltigen Explosion die deutsche Maschinengewehrstellung hinter einer umgestürzten Straßenbahngarnitur zum Schweigen. Die darauf folgende Stille war gespenstisch. Für einen Augenblick schien der Krieg Atem zu holen.
    Auf ein Zeichen seines Gruppenführers stürmte Solowjov in einen Hauseingang, zusammen mit zwei seiner Kameraden. Bevor sie sich den Keller vornahmen, liefen sie die ausgetretenen Stufen nach oben, kontrollierten die Stockwerke und traten Wohnungstüren ein, durchsuchten flüchtig die leer stehenden Räume, sicherten das Haus.
    »Vorsichtig vorrücken, umsichtig handeln, unbarmherzig zuschlagen«, hatte der Tagesbefehl gelautet und Solowjov hatte nur genickt und gehofft, dass er den nächsten Tagesbefehl noch erleben würde. Er hatte sich bekreuzigt und das kleine Amulett geküsst, das ihm seine Mutter umgehängt hatte, dann sein Gewehr kontrolliert und zusätzliche Munition in Empfang genommen. Damit war ein neuer Tag des scheinbar endlosen Schreckens angebrochen.
    Im Keller blickten ihm im Strahl der Taschenlampe Augen entgegen, die ihn an seine eigenen erinnerten. Erschöpft, desillusioniert, weit aufgerissen. Und dann war da noch etwas. Die Angst, der Geruch der Angst, der sich über den dumpfen Kellermief gelegt hatte wie ein Leichentuch.
    Solowjov machte einen kurzen Rundgang durch die Abteile, die im Kerzenlicht winzig aussahen und überbelegt waren. Kinder und Frauen wichen vor ihm zurück, als ob er die Pest hätte. Männer waren nirgends zu sehen. Maxim ließ den Karabiner sinken, drehte sich um und ging wieder hinaus, nahm seinem Kameraden einen Pinsel mit weißer Farbe aus der Hand und malte mit großen kyrillischen Buchstaben die Worte »Kwartal prowiereno«, »Häuserblock überprüft«, auf die Hauswand.
    Brandgeruch zog durch die Straße, Feuer schlug aus einem der Dachstühle und Solowjov wechselte vorsichtig die Straßenseite, gebückt laufend und betend. Wenn er starb, dann wollte er betend sterben. Das hatte er seiner Mutter versprechen müssen.
    Der Granatenbeschuss war stärker geworden, es regnete Mauerstücke und Dachziegel. Als er um die Ecke in eine Nebengasse bog, fiel sein Blick auf ein Plakat, das ziemlich neu zu sein schien. In großen schwarzen Lettern wurde Wien zum Verteidigungsbereich erklärt. Maxim, der in seiner Jugend Deutsch gelernt hatte, überflog den Anschlag, sich immer wieder vorsichtig umblickend. Das Plakat war keine Woche alt, datiert mit dem 2. April 1945, gezeichnet mit einem Heil Hitler und der Unterschrift des Gauleiters Baldur von Schirach.
    Ein Schrei brachte Solowjov in die Gegenwart zurück und er fuhr herum. Eine kleine Gruppe russischer Soldaten zog einen Heckenschützen

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