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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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zurücklagen, sie drängten sich mit Nachdruck an die Oberfläche. Und trotzdem, die Identität dieses Balthasars mit Weitblick war Georg nach wie vor ein Rätsel. Er musste mit dem Schwarzen Bureau zu tun gehabt haben, von seinem Archiv war die Rede, von den Aufzeichnungen, die Europa ins Chaos stürzen könnten.
    »Was hätte damals solche Auswirkungen haben können?«, murmelte Georg. Schwarze Bureaus hatte es zu dieser Zeit in vielen Staaten gegeben, nicht nur in Österreich. Sie waren die Vorläufer der Geheimdienste, die Spezialisten für Geheimschriften, Ver- und Entschlüsselung, diplomatische Depeschen und Korrespondenzen zwischen Staatschefs.
    Fürst Metternich jedenfalls musste es wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen sein, als der kleinwüchsige Geheimnisträger an seine Tür klopfte. War es der Leiter des Schwarzen Bureaus gewesen? War der Zwerg jener Mann, der alles über alle in diesem Reich wusste, der die dunkelsten Geheimnisse der Macht kannte und noch dazu sein gesamtes Archiv mitbrachte? War er der Garant für Metternichs Aufstieg gewesen?
    »Unbezahlbar«, sagte Georg nachdenklich und nahm einen Schluck Tee. Mit dem Wissen des Zwerges im Rücken war es kein Wunder, dass der Staatskanzler zum wichtigsten Staatsmann seiner Zeit wurde, überlegte er, den Wiener Kongress zum Erfolg führte und erst 1848 in Ungnade fiel. Da war sein Mentor bereits lange tot und hatte seine Ruhe in der Gruft unter dem Rennweg gefunden.
    Er überflog wieder den Brief. Dieser Balthasar, dieser scharfsinnige und geniale Stratege, hatte noch zu Lebzeiten Metternichs Sturz vorhergesagt, unfehlbar wie ein griechisches Orakel. Schließlich war alles ganz genau so eingetroffen und der große Metternich wurde mit Schimpf und Schande verjagt, ins Exil nach London.
    Ein Schatten der Geschichte, dachte Georg. Dieser Zwerg war einer jener Männer, die immer im Dunkeln blieben und doch die Fäden in der Hand hielten. Sie bestimmten den Lauf der Ereignisse stärker und nachhaltiger, als es viele für möglich hielten. Er war die Spinne gewesen, die im Zentrum des Netzes auf Fliegen gelauert hatte, gut vorbereitet, tödlich und immer hungrig.
    Das Läuten am Tor riss ihn aus seinen Gedanken. Dienstag früh, knapp vor acht, wer kann das sein, schoss es ihm durch den Kopf und er erwog kurz, einfach nicht zu öffnen. Aber dann sprang schon Tschak bellend an ihm vorbei in Richtung Fallgatter und Georg folgte ihm seufzend.
    »Tschak, du kleiner Racker, wo ist denn dein großes Herrchen? Schläft er noch? Das würde ihm ähnlich sehen!«
    Georg erkannte Pauls Stimme bereits aus der Ferne. »Reporter haben um diese Zeit keinen Zutritt«, rief er, »in dreißig Sekunden wird heißes Pech aus den Löchern über der Zugbrücke gegossen, die Federn folgen auf dem Fuße.«
    »Eine leere Drohung«, rief Paul zurück, »Tschak ist durch das Gitter geschlüpft und tollt gerade um meine Beine. Ich wette, er hätte etwas dagegen, als schwarzes Huhn zu enden, du unfreundlicher Troll. Mach lieber auf und drück mir eine Tasse Kaffee in die Hand, ich hab so gut wie nicht geschlafen.«
    Georg zog an der Kette des Mechanismus und mit einem ohrenbetäubenden Rattern glitt das massive, eisenbeschlagene Fallgatter nach oben.
    »Hast du die Selbstschussanlagen entschärft?«, fragte Paul, als er unter den Spitzen des Fallgatters durchschlüpfte. »Diese Burg ist ein sicherheitstechnischer Über-GAU. Man könnte glauben, du verschanzt dich für den nächsten Krieg.«
    »Sie hält mir zumindest im Normalfall morgendliche Ruhestörer vom Leib«, gab Georg zurück. »Komm rein, ich mach dir einen Kaffee.« Er warf einen prüfenden Blick auf den Reporter. »Ich hoffe, du wirst jemals so alt, wie du aussiehst.«
    »Danke, das habe ich gebraucht«, erwiderte Wagner. »Aber du weißt ja, guter Sex hält jung.«
    »Ich wusste nicht, dass du so lange keinen mehr hattest«, meinte Georg trocken und stieß die Tür zu seiner Küche auf.
    »Genug geplänkelt«, seufzte Wagner. »Der Bundeskanzler wurde gestern erschossen, ich hab die ganze Nacht recherchiert und versucht, Einzelheiten herauszubekommen.«
    Georg stellte schockiert die Kaffeedose auf die Tischplatte. »Was? Der Bundeskanzler? Das ist nicht dein Ernst. Der wird doch sicher rund um die Uhr bewacht, vor allem nach den Politikermorden der letzten Tage.«
    »Wurde rund um die Uhr bewacht, sollte es heißen«, meinte Paul und stellte den Wasserkocher an. Er zuckte mit den Schultern. »Frag mich nicht weiter, es

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