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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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nicht bewegt zu haben.
    Der Geruch von kalter Asche und abgebranntem Feuer im Kamin erfüllte die Luft. Der Wissenschaftler öffnete die Fenster, ließ die frische Morgenluft herein, bevor er das Wasser für den Tee aufsetzte. Zur Feier des Tages holte er den besten Orange Pekoe aus der geheimen und gut versteckten Reserve. Die kleine Packung, die er bei einem kleinen Händler in London vor einigen Monaten erstanden hatte, trug die Buchstaben FTGFOP – Finest Tippy Golden Flowery Orange Pekoe – und enthielt den qualitativ hochwertigsten schwarzen Tee, der für Geld zu kaufen war. Wie Teekenner immer zynisch zu behaupten pflegten, standen die Buchstaben für »far too good for ordinary people«, also für »viel zu gut für gewöhnliche Leute«.
    »Aber heute fühle ich mich nicht wie ein gewöhnlicher Leut«, murmelte Georg und sah den Blattspitzen zu, wie sie zarte Arabesken ins Wasser malten und es goldgelb färbten. Mit einer duftenden Schale Tee ging er in den Burghof, setzte sich auf eine der niedrigen Mauern und genoss den Morgen. Seidige Fäden glänzten in den Sonnenstrahlen. Es war der erste Tag im September, der Altweibersommer hatte begonnen, und die frisch geschlüpften Spinnen, die dieser Zeit ihren Namen gaben, begannen ihre Flüge. Mit dem Gesang der Vögel, den Schreien der Turmfalken, die in den brüchigen Mauern nisteten und flügge wurden, und dem beruhigenden Summen der Insekten über den Disteln und Wiesenblumen im Burghof hätte all das ein Idyll sein können, aber die Schatten der vergangenen Nacht ließen Georg keine Ruhe. Seine Entdeckungen hatten ihn zwar einerseits befriedigt, aber andererseits erschreckt. Das Tagebuch Lambergs zeichnete ein beeindruckendes und zugleich beängstigendes Bild.
    Nachdenklich ging er auf und ab. Es waren unterm Strich mehr Fragen offengeblieben, als er befürchtet hatte. Der Brief auf seinem Tisch ließ ihm außerdem keine Ruhe. Sina bedauerte, dass es gestern Abend, oder besser gesagt heute früh, zu spät geworden war, um ihn genauer zu untersuchen.
    Deshalb ging Georg zurück in den Palas und holte den Brief Metternichs, nahm ihn mit und begann neuerlich seinen Rundgang im Burghof. Er las das Schreiben aufmerksam und kramte in seinen Kenntnissen über das 19. Jahrhundert. Metternich und der Wiener Kongress weckten Assoziationen und Erinnerungen an vor langer Zeit absolvierte Vorlesungen, aber ein »geschätzter Freund Balthasar« sagte ihm gar nichts. Der Adressat der Zeilen musste der Tote in der Gruft sein, der Zwerg in seinem steinernen Grab, umgeben von den goldenen Buchstaben an den Wänden. Die Buchstaben … Wie hatten sie noch gelautet? B.J.G.R.U.K.J.Z.? Sina war sich nicht mehr ganz sicher. Aber »B« könnte für Balthasar stehen. Logisch überlegt, wäre dann das »J« der erste Buchstabe seines Familiennamens.
    Die ominöse Dachstube, die im Text Erwähnung gefunden hatte, war wohl der Ort gewesen, an dem der Zwerg lange Jahre gelebt haben musste, verborgen vor den Augen der Welt. Wenn die Beziehung so eng, so intim gewesen war, wie die Zeilen des Staatskanzlers an seinen Freund Balthasar suggerierten, dann war sie wohl im unmittelbaren Umfeld des Fürsten gewesen, womöglich sogar im obersten Stock des Palais Metternich.
    Vier Wege zum Wissen, vier Bausteine des Geheimnisses. Georg strich sich über den Bart. Und dann auch noch der doppelte Boden, eine geniale Idee jenes klein gewachsenen Balthasars, an den der Brief gerichtet war. Eine Konstruktion, die Jahrhunderte überdauern werde. Sina schüttelte den Kopf. Daraus konnte man nicht schlau werden.
    Bei Wetzdorf war das schon anders. »
Ich hatte mich entschlossen, vor meiner Abreise nach London doch nach Wetzdorf zu fahren und ihn kennenzulernen. Wer weiß, ob ich jemals wieder nach Wien zurückkehre. Wenn nicht, dann hätte ich mir mein Versäumnis nie verziehen. Ich habe ihn gesehen und gesprochen und deinen Weitblick bewundert.«
Der Name des Ortes kam Georg bekannt vor. Er hatte ihn erst neulich gehört, war er sich sicher. War Wetzdorf nicht der Ort, an dem vor zwei Tagen die Bahnlinie gesprengt worden war? Metternich hatte jemanden aufgesucht, der 1848 ganz offenbar in Wetzdorf gewesen war, an einem Ort, der es erst kürzlich mit lautem Knall aus dem Vergessen in die Schlagzeilen geschafft hatte.
    Die ganze Geschichte wurde mit jedem Indiz, das Georg wie die verstreuten Perlen einer gerissenen Kette auflas, immer abstruser. Egal, wie weit die Ereignisse aus den Dokumenten auch

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