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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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und der kaltblütigen Ermordung des Bundeskanzlers stellt sich die Frage wohl nicht mehr«, gab Dr. Sina zurück. »Wir müssen davon ausgehen, dass jemand ganz genau weiß, was er tut. Dass eine Gruppe den Nationalrat infiltriert hat, geduldig, behutsam und seit Jahrzehnten auf ein Ziel hinarbeitend. Eine Gruppe, die sich selbst als legitimiert dazu ansieht, jetzt die Regierung zu übernehmen, auf welcher Basis auch immer.«
    Berner beobachtete Georg, der noch immer tief in Gedanken versunken war.
    »Oder vielleicht seit Jahrhunderten …«, sagte der Wissenschaftler leise.
    Alles drehte sich nach ihm um.
    »Kommt es euch nicht seltsam vor, dass ausgerechnet jetzt, wenige Stunden nach dem Auffinden des Kupferzylinders, diese Forderung gestellt wird? Nach Jahren und Jahrzehnten der Vorbereitung ist die Zeit reif, und zwar heute? Nein, an solche Zufälle glaube ich nicht. Vor allem nicht, nachdem ich das Tagebuch Lambergs gelesen habe.« Georg schüttelte energisch den Kopf. »Außerdem – was heißt hier legitim? Wer in diesem Land regiert, das bestimmt das Volk durch demokratische Wahlen. Artikel 1 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes lautet schließlich: Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.« Er verstummte. »Andererseits …«
    »Andererseits?«, wiederholte Berner ungeduldig.
    »Wenn wir etwas in der Geschichte zurückgehen, dann haben wir ein paar Fakten, die vielleicht nicht allgemein bekannt, aber dennoch Tatsachen sind – ziemlich verdrehte, aber nachvollziehbare, wenn man sich in den fiebrigen Verstand solcher Leute versetzt …«
    »Könntest du das etwas weiter ausführen?«, bat Berner.
    Georg nickte und überlegte kurz. Sein Vater und Paul kamen zurück an den Tisch und lauschten aufmerksam.
    »Kaiser Karl I. von Österreich hat, anders als Wilhelm II. im Deutschen Reich, im Jahr 1918 nicht abgedankt, sondern lediglich auf die Ausübung seiner Regierungsgeschäfte verzichtet. Darauf hat uns nicht zuletzt seine Witwe Zita immer wieder hingewiesen. Karl tat dies allerdings in dem Glauben und der Hoffnung, die Nachfolgestaaten der Monarchie würden sich zu einem Bundesstaat zusammenfinden, einem föderalistischen, multiethnischen Bund unter Habsburgs Führung und möglicherweise sogar auf konstitutioneller Basis. Das passierte jedoch niemals, wie wir wissen, das alte Kaiserreich zerfiel in lauter Kleinstaaten, die auf dem direkten Weg in nationale Diktaturen waren. Nur die Tschechoslowakei bildete dabei eine Ausnahme.«
    Georg goss sich Tee nach. »In der Logik mancher Hardliner stellt somit nicht nur die Erste Republik in Österreich eine Staatsform da, die durch eine Revolution zustande gekommen ist, sondern auch die Zweite Republik. Auch wenn diese Revolution eigentlich unbemerkt stattgefunden hat. Aber stattgefunden hat sie.«
    »Worauf willst du eigentlich hinaus?«, warf sein Vater ein.
    »Schau, eine revolutionäre Verfassung hat in den Augen jeder Form von Restaurationspolitik keine Rechtsgültigkeit. Du brauchst nur den Wiener Kongress in Betracht zu ziehen, da spricht man von Restauration, weil man den Zustand vor dem Umbruch, vor der Französischen Revolution und Napoleon, wiederherstellen wollte. Das bedeutet, dass die Verfassung der Ersten Republik und alles, was danach kam, inklusive der Besetzung durch das Dritte Reich und der anschließenden Zweiten Republik, unter diesem Aspekt unrechtmäßig sind.«
    Georg blickte in die Runde und sah die erstaunten Gesichter.
    »Anders ausgedrückt: Egal, ob demokratisch gewählt oder nicht, die Grundfesten des heute existierenden Staates sind somit nicht rechtsbindend und für diese Leute ungültig. Sie sehen in der Republik das Werk von Putschisten.«
    Paul pfiff durch die Zähne. »Das erklärt manches.«
    »Vergiss nicht, dass damals das Erzhaus Habsburg-Lothringen auf seinen Thronanspruch verzichten musste, um überhaupt österreichische Pässe oder eine Einreisegenehmigung für seine Mitglieder zu bekommen. Bis heute haben die Mitglieder dieser Familie nur ein aktives, kein passives Wahlrecht, das heißt, sie können nicht zur Wahl aufgestellt und somit auch nicht gewählt werden.«
    Dr. Sina nickte seinem Sohn auffordernd zu, während Valerie sich interessiert vorbeugte.
    »Nehmen wir aber an«, fuhr Georg fort, »es gäbe eine Linie des Kaiserhauses, die nicht auf ihre Ansprüche verzichtet hätte, niemals, nämlich seit der Regentschaft Kaiser Josephs I. nicht, wie Matthias Lamberg uns in seinem

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