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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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sich weniger und weniger entziehen konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er plötzlich Dutzende aufeinandergestapelter Gelbkreuzgranaten in modrigen Gewölben, die nur darauf warteten, in wenigen Stunden hochzugehen, um ihren giftigen Atem auf die Bundeshauptstadt zu speien.
    Er zog die Schultern hoch. Diese Bedrohung war verdammt real und sie kam mit der Präzision eines Uhrwerkes näher und näher. Waren sie nicht alle – er, Paul, Valerie und Berner – Marionetten, die an unsichtbaren Fäden tanzten? Letztes Jahr hatte ein mittelalterlicher Kaiser das Stück inszeniert, wer war es dieses Mal? Hinter einer Wand, hinter den Kulissen, in der Schwärze des Bühnenraumes, agierte jemand im Verborgenen, ließ die Puppen tanzen. Und er, Georg, er war der Kasperl in diesem Stück, der Narr, der den ausgestreuten Brotkrumen hinterherwackelte, wie der dumme Bulle zur Schlachtbank. Aber von dem lauernden Krokodil, dem er nach der Tradition des alten Wiener Marionettentheaters seinen Prügel auf den Schädel hauen konnte, war nirgends eine Spur zu finden. Es hatte sich im Dickicht vor seinen Jägern verborgen, zusammen mit der scheinbar unabwendbaren Gefahr.
    Der freundliche Portier, der ihm am Eingang erwartungsvoll entgegenlächelte, war hilfsbereit und lotste Georg mit dem Finger über den Gebäudeplan fahrend durch das verwinkelte Labyrinth aus drei Abteilungen und sechs Stationen. Schnell hatte er im Computer den gewünschten Patienten gefunden und verwies Sina auf die Zweite psychiatrische Abteilung, zur Behandlung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, dem sogenannten Borderline-Syndrom.

»Aber passen S’ auf«, meinte er noch verschmitzt. »Die Pfleger und Patienten schauen alle gleich aus. Alle tragen dieselbe legere Freizeitkleidung und das hat so manchen Rettungsfahrer schon in die Irre geführt …«
    »Wie bitte?«, stieß Georg ungläubig hervor.
    Der feiste Mann lachte. »Na ja, wie das halt so ist, die können sich nicht alle leiden. Wenn also einer von ihnen verlegt werden soll, dann ist es schon vorgekommen, dass sie den einen oder anderen Widersacher vorschieben und ihn abtransportieren lassen wollten. Die Fahrer kennen ja die Patienten nicht …«
    »Im Ernst?« Sina traute seinen Ohren nicht.
    »Ja, ja, aber keine Sorge, solche Missverständnisse lösen sich in der Regel schnell wieder auf.« Der Portier amüsierte sich prächtig und winkte lässig ab. »Kein Grund zur Beunruhigung. Ich wollte Ihnen das nur sagen, falls Sie sich weiß gekleidetes Pflegepersonal wie in den Fernsehserien erwartet haben. Nur die behandelnden Ärzte tragen die üblichen Kittel, halten Sie sich im Zweifelsfall an die.«
    »Danke, das werde ich«, antwortete Georg und machte sich auf den Weg, nicht sicher, ob sich der Portier nicht einen Scherz auf seine Kosten erlaubt hatte.
    Auf dem Weg in die Zweite psychiatrische Abteilung versuchte er das erste Mal, Paul anzurufen. Er landete aber immer wieder auf der Mailbox seines Freundes. Berner – gleiches Resultat. Georg war zutiefst verunsichert. Waren sie an der Bombe gescheitert?
    Schneller als erwartet fand er die ruhigen und freundlichen Räume. Georg war überrascht, denn nichts war hier so, wie er es sich vorgestellt hatte. Da war kein lautes, chaotisches Durcheinander, wie er es aus Filmen und Büchern immer kannte. In Wirklichkeit waren die Zimmer hell, trotz der dicken Wände und kleinen Fenster. Georg fühlte sich in ein Jugendzimmer von Ikea versetzt. Das lichte, hölzerne Interieur vermittelte ihm das seit Kindheitstagen bekannte Empfinden eines Jugendlagers oder einer Klassenfahrt. Männer und Frauen gingen oder saßen in den Gängen, trugen T-Shirts und Jogginghosen und verströmten eine innere Ruhe und Gefasstheit, die es für einen Außenstehenden wirklich unmöglich machte, das Pflegepersonal von den Patienten zu unterscheiden.
    Der Wissenschaftler sah sich rasch um. Er musste jemanden nach Max fragen und er wollte nicht an den Falschen geraten. Sina suchte nach einer Möglichkeit, einem sichtbaren Kriterium, um die Patienten von den Pflegern zu unterscheiden. Er schaute genauer hin. Die meisten, die gemächlich über den Gang spazierten, hielten ihre Zeigefinger ausgestreckt. Das sind wohl die Patienten, dachte Sina. Also war nach dieser Theorie kein Pfleger in Sicht.
    Vorsichtig steckte er seinen Kopf durch eine Tür und blickte in einen Aufenthaltsraum. Männer und Frauen saßen an Tischen beisammen und rauchten schweigend, ihre Blicke auf den

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