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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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beide schon in wenigen Stunden nur mehr eine fünfzeilige Meldung im Chronikteil, während ein
Kaiser
von Erpressungs-Gnaden durch seine jubelnde Hauptstadt paradierte?
    Wenn es wenigstens Lachfalten wären, wie im Gesicht seiner Großmutter … Paul lächelte bitter und warf Georg einen Blick zu. Er schien wirklich eingeschlafen zu sein. Draußen war es stockdunkel, nur gelegentlich flackerten helle Streifen und Farbflecken auf wie eine wirbelnde Lichtorgel, und die Station Karlsplatz verschwand so schnell, wie sie gekommen war. So tief im Bauch der Stadt hatte sich Wagner noch nie gefühlt. Normalerweise verging die Fahrt bis zur nächsten Station wie im Flug, heute schien es eine Ewigkeit. Er schloss die Augen. Es war, als spürte er den Druck der Erde und des Gesteins über ihm körperlich, als würde dieser Kurzzug durch die Innereien der Metropole an der Donau kriechen wie ein infizierender Bandwurm. Und er, Paul Wagner, war ein Teil davon.
    Der Reporter fragte sich, was in diesem Moment in den Straßen Wiens vor sich ging. Formierten sich Demonstranten, rückten die Polizei oder das Bundesheer an, vielleicht sogar beide? Oder waren die Wiener tatsächlich bereits in einen trunkenen Kaiserwalzer verfallen, während er hier unten machtlos dem Lauf der Geschichte und seinen gleichgültigen Bewachern ausgeliefert war?
    Eine ruckartige Bremsung riss ihn aus seinen Gedanken. Die U-Bahn verlangsamte mitten auf der Strecke abrupt ihr Tempo und für einen kurzen Augenblick wurde die Sicht auf die zweispurige Haupttunnelröhre der U1 frei. Der Triebwagen zweigte auf ein Nebengleis ab, das Paul noch nie aufgefallen war. Gab es hier im überbauten Graben des Wienflusses eine versteckte Trasse nach Nordwesten?
    »Wohin fahren wir?«, fragte Paul den Bewacher.
    »Lassen Sie sich überraschen, Herr Wagner«, kam die lapidare Antwort.
    »Wundere dich nicht, Paul«, meldete sich Georg wieder zurück aus dem Traumland, »du weißt doch, die ganze Innere Stadt ist ein unterirdischer Schweizer Käse.«
    »So ist es, Professor«, bestätigte der Polizist. »Keller, Gänge, Schächte und Kasematten, so weit das Auge reicht. Im Zweiten Weltkrieg kamen weitere Durchgänge dazu, andere wurden wieder zugemauert. Aber auch heute konnten wir bequem von einem Ende der Innenstadt zum anderen marschieren, ohne unsere Deckung aufzugeben.«
    »So ein Pech, dass sich keiner dabei in den baufälligen Gewölben den Hals gebrochen hat«, murmelte Paul.
    »Wer sagt denn so etwas?« In den Augen des Uniformierten erschien ein seltsamer Glanz, der seinem Gesicht einen grausamen, unbeirrbar überzeugten Ausdruck verlieh. »Wo gehobelt wird, fallen Späne, das wissen Sie doch am besten. Aber unsere Gefallenen sind Helden. Sie starben für die Sache.«
    »Na, da sind wir aber beruhigt«, stöhnte Sina zynisch. »Und erst recht die Witwen und Waisen …«, fügte er noch leise hinzu und schloss wieder die Augen.
    Wenige Minuten später stoppte der U-Bahn-Zug mitten auf der Strecke, wie es schien. Wagner schaute erstaunt den Polizisten an.
    »Nur Geduld, gleich gibt es Licht«, beruhigte ihn der Beamte mit einem mitleidigen Lächeln. Als Paul wieder nach draußen schaute, gingen nach einem kurzen, stroboskopartigen Aufflackern zahlreiche Neonröhren an und rissen eine unbekannte Haltestelle aus dem Dunkel.
    »Sieh dir das an, Georg«, staunte Paul. »Das muss sie sein, die legendäre geheime U-Bahn-Station unter dem Ballhausplatz.«
    »Wie bitte?« Sina richtete sich auf und starrte ungläubig durch das Fenster.
    »Angelegt während des Kalten Krieges, um die Bundesregierung und den Präsidenten zu evakuieren, wenn die Lage brenzlig wird …« Wagner war aufgeregt. Das war Material für die erste Seite. Er fühlte sofort wieder den Reporter in sich erwachen. »Ich habe letztes Jahr einen Artikel darüber in der ›Zeit‹ gelesen. Angeblich hat sich selbst das Fernsehen um eine Drehgenehmigung bemüht, aber hat keine bekommen. Und jetzt sind wir hier. Stell dir das vor …«
    »Du vergisst dabei nur, dass wir kaum je Gelegenheit haben werden, jemandem davon zu erzählen«, gab Georg müde zurück.
    »So ist es. Aussteigen!«, befahl der Bewacher, zog seine Glock und deutete mit dem Lauf seiner Waffe auf die Tür. »Wir wollen doch kein Risiko eingehen«, meinte er maliziös. »Hände in den Himmel und schön langsam!«
    Vorbei an gefliesten Wänden ohne jedes Reklameplakat betraten sie schon bald im Gänsemarsch ein enges Stiegenhaus, das steil nach oben

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