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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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der Tote aus seinem ganz persönlichen Umfeld, Gustav Kirschner war nicht irgendein Unbekannter, sondern sein alter, geschätzter Lehrer, ohne den er vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen hätte. Irgendjemand versucht schon wieder einfach über mein Leben zu bestimmen, schoss es ihm durch den Kopf. Ein krankes Hirn löscht ein Leben aus und zwingt damit meines in eine neue Bahn.
    Der Tee war stark und roch nach Vanille. Sina nippte vorsichtig und langsam setzte sich sein Gehirn in Gang. Wer drapierte den Leichnam eines armen, wehrlosen Menschen nach einem, wie es schien, kranken Plan und verdrehten Symbolismus? Herausgeschnittene Zunge, Apfelbaum, ein schnell hingekritzelter Hinweis auf dieses Pestkreuz. Das passte alles nicht zueinander. Frustriert schlug Georg mit der Faust gegen ein Polster, dass es durch den Raum segelte. Wieder musste er sich in den Kopf des Täters versetzen, um das Rätsel zu knacken, und nur Gott allein wusste, wie sehr der menschenscheue Mediävist das hasste. Sina rieb sich seufzend mit beiden Händen den letzten Rest Schlaf aus dem Gesicht. Seine friedliche Burg im Waldviertel und das geruhsame Leben im Dienste der Wissenschaft schienen plötzlich wieder in weite Ferne gerückt.
    Die Sonnenstrahlen fielen durch die Zweige der Buchen und das Glasdach der Remise und zeichneten ein abstraktes Muster auf den dunklen Boden. Sina nahm die Teetasse und wanderte ziellos durch den großen Raum. Er betrachtete die Vitrinen mit den Modellzügen, den kleinen Straßenbahnen, die Paul als Reminiszenz an die Vergangenheit der Remise aufgestellt hatte. In einem der Glaskästen sah er lächelnd die beiden Ritterfiguren mit ihren abgebrochenen Köpfen, die ihn an das Rätsel des »Höllenzwang« und die Fahrt nach Chemnitz erinnerten, die ein Jahr zuvor fast tödlich geendet hatte. Aber das Leben war weitergegangen, weil der da oben es so entschieden hatte, dachte Sina dankbar. Irgendwann wird auch mein Lebensfaden reißen, räsonierte er, aber bitte erst später, viel später. Und bis dahin wird es jeden Tag von Neuem einen Morgen mit Vogelgezwitscher geben. Wer weiß, wo, immer wieder, egal, was auch immer mir passiert.
    Er war vor der Sammlung alter Rennmotorräder angelangt, die Wagner in jahrelanger Arbeit liebevoll restauriert hatte und nun als einen Teil der Einrichtung betrachtete. »Diese Dinger haben mein Leben ruiniert«, murmelte er und erinnerte sich an Clara, seine verstorbene Frau. Früher, wenn er in seiner Burg vor dem Kamin gesessen war, da hatte er oft mit ihr gesprochen. Aber in letzter Zeit war sie still geworden, besuchte ihn nicht mehr. Und jetzt, nachdem ihn Paul aus seinem Exil geholt hatte, war es ohnedies viel zu laut in seinem Leben geworden, um ihr zuzuhören. Er betrachtete die blauweiße Suzuki GSX-R 1100 und erinnerte sich mit Schaudern an den Höllenritt hinter dem Reporter nach Klosterneuburg. »So weit zum Lebensfaden«, brummte der Wissenschaftler. »Ich gelobe, dass ich mich in Zukunft von den Dingern fernhalte und dem Chef da oben sein Geschäft erleichtere.«
    Er trank seinen Tee aus, schaute auf die Uhr und beschloss dann, ins Bett zurückzukehren und noch eine Mütze Schlaf zu nehmen. Die Decke war noch warm, Georg streckte sich wohlig, aber die Worte Wagners gingen ihm nicht aus dem Kopf. Ein Bombenanschlag in Österreich? So ein Quatsch, dachte er. Das interessiert doch niemanden, wenn irgendwo in Niederösterreich eine Bahnstrecke in die Luft fliegt. Das kann nur eine Fliegerbombe oder falscher Alarm sein, überlegte er noch, dann schlief er wieder ein.
    Kurz vor neun klingelte Sinas Handy und holte ihn aus einem tiefen und diesmal traumlosen Schlaf. Benommen hob er ab, erwartete Wagner am anderen Ende der Leitung mit einem Bericht zur Lage der Nation, aber stattdessen drang die Stimme eines Unbekannten an sein Ohr.
    »Guten Morgen, Professor Sina. Ich hoffe, ich störe nicht und habe Sie nicht geweckt.«
    »Beide Male weit gefehlt«, gab Georg ungehalten zurück. »Hören Sie, es ist Sonntagmorgen. Ja, Sie stören, und ja, ich habe noch geschlafen.«
    Der Unbekannte schwieg überrascht.
    »Auf meiner Burg gibt es zum Glück keinen Empfang für diese Gehirntoaster und das hält mir Störenfriede wie Sie vom Leib.« Sina redete sich in Rage. »Noch etwas, bevor ich auflege: Sollten Sie ein Student sein, dann sorgen Sie dafür, dass ich nie Ihren Namen erfahre. Und jetzt – raus aus meiner Leitung!«
    »Mein Name ist Ireneusz Lamberg und ich habe Ihre Nummer

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