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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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sie zu bändigen, gab es auf und zog schließlich seine Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich bin dann mal weg. Ich geh an die Spree, leg mich ins Grüne und schlaf bis Sonnenuntergang. Wenn du dann Lust auf ein Bierchen hast, melde dich. Aber nicht zu früh!« Er winkte zum Abschied und verschwand in der Morgendämmerung.
    Marzin drehte den Zylinder in seinen Händen und betrachtete nachdenklich das Siegel, bevor er ihn sich unter den Arm klemmte und die Lichter löschte. Er dachte an die elektrische Plattform mit den toten Ratten, an das Flutventil und die professionell getarnte Tür. Das Dokument, so denn wirklich eines in dem Zylinder war, musste ungewöhnlich wichtig sein. Es war wohl das bestgeschützte Papier in Europa gewesen. Jetzt wusste er auch, wem er das gute Stück zeigen würde.
    Breitensee, Wien/Österreich
    D er Panzer fuhr geradewegs auf ihn zu. Georg Sina wollte schreien, winken, auf sich aufmerksam machen, aber die Ketten rollten unaufhaltsam näher, wirbelten die trockene Erde des Ackers auf. Das dumpfe Rumoren des Dieselmotors und das metallische Rasseln des Tanks erfüllten die Luft. Nur noch wenige Zentimeter und der Wissenschaftler würde zerquetscht werden – da fuhr Sina hoch und wachte auf. Dankbar stellte er fest, dass der Panzer verschwunden war, das undefinierbare Rumoren aber blieb. Er wälzte sich auf den Rücken, schlug die Bettdecke zurück und öffnete versuchsweise die Augen. Alles drehte sich und er schloss sie gleich wieder. Nicht gut, dachte er, ich hätte gestern eindeutig weniger trinken sollen. Und wo bin ich überhaupt?
    Der zweite Versuch war erfolgreicher, das Zimmer stabilisierte sich und Georg schaute sich um. Er lag in keinem Feld, sondern in weicher Bettwäsche. Er erkannte eines der Gästezimmer im ersten Stock von Paul Wagners luxuriös renovierter Straßenbahnremise. Das Licht der Morgensonne schien durch die Fenster herein, und aus den nahen Bäumen zwitscherten die Vögel. Der Reporter hatte sich auch durch die erschreckenden Ereignisse im Frühjahr des letzten Jahres nicht aus seinem geliebten Fuchsbau an der Peripherie Wiens vertreiben lassen. Dazu hatte es ihn zu viel Überzeugungsarbeit bei den verschiedenen Ämtern gekostet, den halb verfallenen Bau kaufen und restaurieren zu dürfen. Der alte Lokschuppen der Nordbahn war im Krieg zu einer Remise umfunktioniert worden, als man nach den schweren Bombenangriffen händeringend Werkstätten suchte. Viele der Wiener Straßenbahn-Garnituren waren beschädigt worden, und die regulären Straßenbahndepots und -hallen waren alle überlastet oder ebenfalls ein Raub der Flammen geworden. Mächtige Buchen verdeckten das Gebäude und täuschten die anfliegenden Bomberstaffeln. Nach dem Krieg geriet das Ziegelgebäude, das 1908 errichtet worden war, in Vergessenheit, bevor es als Materialdepot, Schwellenlager und schlussendlich als Müllhalde verwendet wurde. Wenige Tage, bevor die Abrissbagger kamen, war Paul Wagner über Gleise gestolpert, die scheinbar ziellos auf eine Gruppe majestätischer Laubbäume zuführten. Die Natur hatte sich in den Jahrzehnten nach dem Weltkrieg ihr Territorium wieder zurückgeholt. Ein Wäldchen deckte das Gebäude fast gänzlich zu und Gras wuchs auf den Zufahrtsstraßen. Äste drangen in die leeren Fensterhöhlen und das Gras versuchte die alten Mauern zu begrünen. Als der Reporter den Schienen neugierig gefolgt war, stand er plötzlich vor dem desolaten, aber immer noch stolzen Jugendstilgebäude mit den drei hohen Holztoren und den vier kleinen Türmchen. Wagner beschloss auf der Stelle, die alte Remise zu retten, um hier zu wohnen. Nach monatelangen Verhandlungen und einer langwierigen und kostspieligen Renovierung erstrahlte das Gebäude, das auf keinem Stadtplan eingezeichnet war, in neuem Glanz. Daher nannte Wagner es auch seinen »Fuchsbau« – entweder man kannte die Zufahrt über ehemalige Bahndämme und um die alten Lagerhäuser herum, oder man landete schnell in den engen, ziemlich dunklen Sackgassen des ehemaligen Güterbahnhofs, auf Kiesdeponien oder Wiesen mit hüfthohem Gras.
    Sina fuhr sich seufzend mit der Hand durch die Haare und hoffte, dass der Panzer in seinem Kopf seine Manöver bald einstellen würde. Das Stampfen seiner Dieselzylinder trommelte von innen gegen seine Stirn. Aber auch ganz reale Misstöne drangen durch die Zwischenwände, stachen wie Nadeln in sein Ohr. Zudem hatte er Durst, großen Durst. Und wenn er jetzt sowieso schon wach war, konnte er sich in

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