Narr
von Professor Kirschner«, erklärte der Fremde leicht verstört.
»Lamberg sagt mir nichts und Gustav Kirschner ist tot«, gab Sina kurz angebunden zurück. Beim Namen Lamberg klingelte etwas bei ihm, aber er konnte den Namen nicht wirklich zuordnen.
»Ich weiß. Leider. Ich bin gerade in Nussdorf ob der Traisen. Ich war mit ihm zum Frühstück verabredet und eigentlich hätte ich Sie auch hier treffen sollen.«
»Na, dann wissen Sie ja Bescheid«, entgegnete Sina kühl. »Aber was hat das alles mit mir zu tun, und noch dazu in aller Herrgottsfrühe an einem Sonntag?« Kirschner hatte es offensichtlich darauf angelegt, dass Georg bei ihm übernachten würde. Darum der viele Wein, darum die langen Gespräche bis tief in die Nacht. Der alte Fuchs wollte ihm diesen Lamberg zum Frühstück vorstellen. Sina gähnte.
»Professor Kirschner hat mir geraten, dass, wenn ihm etwas zustoßen sollte … dann sollte ich mich an Sie wenden, weil Sie …nun, wie soll ich es sagen …«
Georg war alarmiert. »Wieso zustoßen sollte? Wollen Sie damit andeuten …?« Der Unbekannte schwieg und Sina wurde ungeduldig. »Am besten, Sie erzählen von Anfang an.«
Unbeeindruckt fuhr Lamberg fort, so als habe er ihn nicht gehört. »… weil Sie Erfahrung haben mit historischen Rätseln, wie er meinte.«
»Nein, ich meine, ja … Sie haben also ein Rätsel für mich? Danke, kein Interesse!« Ein Spinner, dachte er sich, hör ihm am besten gar nicht zu. Georg war knapp davor aufzulegen, da erinnerte er sich im letzten Moment an den Eindruck, den er von Kirschner hatte – der Professor hatte etwas verschwiegen. Im Stillen verfluchte er seine wachsende Neugier. Und wenn …? Schnell warf er ein: »Tut mir leid, ich bin noch nicht ganz munter. Worum geht es?«
»Danke, das ist sehr freundlich, dass Sie mir zuhören.« Der Anrufer schien begeistert von der Hilfsbereitschaft des Professors. »Ich habe von einem meiner Vorfahren ein Tagebuch geerbt, das ich sehr gerne von einem Fachmann, am besten einem Historiker, entschlüsseln und transkribieren lassen würde, weil ich mir auf die meisten Einträge darin keinen Reim machen kann.«
Ein Tagebuch? Plötzlich dämmerte es Sina, woher er den Namen Lamberg kannte. Interessiert hakte er nach: »Meinen Sie das Tagebuch von Franz Philipp Graf Lamberg, der 1848 von einem aufgebrachten Mob auf der Budapester Kettenbrücke gelyncht wurde? Sie müssen wissen, ich bin kein Experte für das 19. Jahrhundert, und Kirschner war es auch nicht. Er war auf das 17. und 18. Jahrhundert spezialisiert.«
Lamberg zögerte und schluckte hörbar, dann antwortete er hastig. »Nein, nein, Professor, das Manuskript ist viel älter. Es stammt aus dem späten 17. Jahrhundert, aus der Zeit von Kaiser Joseph I. Ich wollte es heute an Kirschner übergeben, aber …« Der Unbekannte räusperte sich. »Vielleicht wären Sie ja so nett, einen Blick hineinzuwerfen. Ich weiß, Sie sind Mediävist, aber Kirschner war der Ansicht …«
»Ist gut, ich schaue es mir gelegentlich einmal an«, sagte Sina unverbindlich und schaute auf die Uhr. »Versprechen kann ich Ihnen allerdings nichts. Vielleicht gebe ich es auch an einen Kollegen weiter, wenn es Ihnen recht ist, der auf die Zeit spezialisiert ist. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte …«
»Nein, das wäre mir nicht recht!«, gab der Fremde harsch zurück, schlug jedoch schnell wieder einen sanfteren Ton an. »Ich bin sicher, Professor, es wird Ihr Interesse wecken. Wo kann ich Sie treffen? Ich muss heute noch zurück nach Ungarn, und da wäre es gut, wenn wir uns so bald wie möglich …«
Georg sah seinen freien Sonntag mit einem Schlag in weiter Ferne entschwinden. Er dachte kurz nach. »In Ordnung, kommen Sie in mein Büro. Sagen wir um … Warten Sie. Wie spät ist es? Kurz nach neun. Also gut, seien Sie um elf bei mir im Büro. Universität Wien, Innere Stadt, Karl-Lueger-Ring 1. Wissen Sie, wo das ist? Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie da sind, ich komme dann in die Aula und hole Sie ab.«
»Das ist überaus freundlich, Professor Sina. Ich werde pünktlich da sein. Haben Sie vielen Dank! Auf Wiederhören.« Damit beendete der Unbekannte das Gespräch und Sina ließ das Handy neben sich aufs Bett fallen.
»Komischer Kauz«, murmelte er und beschloss, unter die Dusche zu gehen. »Was geht mich Joseph I. an? Das ist doch Zeitgeschichte für einen Mediävisten …« Er schmunzelte über die Formulierung. Den Satz würde er bei der nächsten Vorlesung seinen
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