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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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wissen, was damit zu tun ist. Wir haben niemals auch nur einen Blick darauf geworfen, wie es der Befehl vorschrieb.
    Gott schütze Russland! Er möge Gnade mit uns haben.
    »Die Phantome des Zaren?« Marzin war aus seiner Erstarrung erwacht. »Wer waren die Phantome des Zaren?«
    Daniel Singer fuhr mit seiner Hand liebevoll über das Schreiben und strich es glatt. »Das ist eine lange Geschichte, Peter, eine traurige lange Geschichte. Wie du vielleicht weißt, zerfiel die kaiserlich russische Armee nach der Revolution. Teile liefen zur Weißen Armee über und kämpften weiter gegen die Kommunisten, andere flüchteten Hals über Kopf über die Grenze und wanderten weiter nach Westen. Sie ließen sich vor allem in zwei Städten nieder – in Paris und in Berlin, wo bald richtiggehende russische Viertel entstanden. Dort fristeten sie meist ein karges Leben zwischen heimwehgeschwängerten russischen Kneipen, lernten mühsam die fremde Sprache und wurden Taxifahrer oder Hilfsarbeiter. Sie beluden Schiffe oder Züge, handelten mit diesem und jenem. Sie hatten ja nichts gelernt außer dem Kriegshandwerk. Viele stammten aus adeligen Familien, die der rote Terror hinwegfegte. So waren sie nicht nur staatenlos geworden, sondern auch oft die letzten Überlebenden ihrer Familie.« Daniel Singer schaute nachdenklich aus dem Fenster auf den wolkenlosen Himmel über Berlin, durch den Schwalben und Mauersegler ihre Kreise zogen. Marzin war gebannt von seiner Erzählung und wartete darauf, dass der alte Mann fortfuhr.
    »Meist war es ein elendes Dasein, das sie führten. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Dazu kam die Verfolgung durch die russische Geheimpolizei, die auch im Ausland Jagd auf sie machte. Sie waren dem Zaren, den Romanows, der Monarchie loyal ergeben bis zum Tod. Und der kam meist schnell. Die Mehrzahl von ihnen erlebte den Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Sie starben in Armenasylen, feuchten Absteigen oder einfach an Unterernährung im Straßengraben. Sie waren der Rest einer untergegangenen Welt und niemand wollte sie mehr haben. Manche glaubten bis zuletzt an eine Rückkehr der Zarenfamilie, es war wohl die einzige Hoffnung, die ihnen geblieben war, an die sie sich klammerten. Die meisten waren schon vorher an der Armut, dem Leben in der Fremde, der Welt, die nicht mehr die ihre war, verzweifelt und hatten sich erschossen. Die letzte Kugel einer alten Militärpistole war alles, was ihnen noch geblieben war. Das, mein Freund, waren die Phantome des Zaren.«
    Universität, Innere Stadt, Wien/Österreich
    E r war vor der Tür seines Büros stehen geblieben, bis ihre Schritte im Gang verhallt waren, und auch dann noch bildete er sich ein, er könne hören, wie ihre High Heels auf dem alten Steinboden klapperten. Oder war es sein Herz, das klopfte? Er ging zurück in sein Büro, schloss die Tür und ließ sich mit dem Rücken dagegen fallen. Georg Sina verstand überhaupt nichts mehr. Was war nur mit ihm los? Mit einem Schlag war sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden. Anstatt den Kopf frei zu halten für die Bedrohungen und Rätsel, von denen Paul gerade am Telefon erzählt hatte, kreisten seine Gedanken jetzt um die blonde russische Assistentin. Rettungslos zappelte er im Netz einer Frau, die ihm vor kaum einer Stunde noch den Nerv geraubt hatte.
    »Verflixt noch mal, Georg, du bist keine siebzehn mehr!«, ärgerte er sich und schüttelte verwundert den Kopf. »Frauen haben eine Gabe, mein Leben zu komplizieren. Das war schon immer so.«
    In Gedanken versunken ging er zu seinem Schreibtischsessel und zog sich seine Schuhe an. Plötzlich schlug er mit der flachen Hand auf einen der Papierstapel. »Warum soll ich mir eigentlich immer den Schuh anziehen, der mir gar nicht passt. Ich habe gar keine Lust, schon wieder den Pfadfinder zu spielen und irgendwelche Spuren zu lesen. Seit wenigen Minuten habe zum ersten Mal nach Jahren eine echte Alternative: Ich könnte Irina nehmen, nach Grub fahren, mein Handy abschalten und es einfach Paul und Berner überlassen, diese Nuss zu knacken. Die beiden wären bestimmt ein gutes Team. Was gehen mich irgendwelche Mordkomplotte an? Ich bin Professor für mittelalterliche Geschichte. Für Kirschner, die Ministerin und den Anschlag auf Berner gibt es die Polizei. Ich habe endlich Lust auf ein bisschen privates Glück, ich bin kein James Bond und schon gar kein Sherlock Holmes! Und lange genug musste ich darauf verzichten …« Er dachte an Clara und die Zeit ohne sie. Würde

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