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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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reich und vor allem erfolgreich. Die Frauen flogen auf ihn wie Bienen auf Zuckerwasser. Doch Singer hatte keine Affären, heiratete nie und lebte allein mit einem Sekretär, der gleichzeitig als sein Chauffeur fungierte und ihn meist überallhin begleitete. Denn Daniel Singer war schwul.
    Jetzt, mit fast fünfundachtzig Jahren, lebte Singer zurückgezogen und allein in einer riesigen Wohnung über seinem Laden. Er hatte das Haus bereits vor Jahrzehnten gekauft und dafür gesorgt, dass niemand es je erfuhr. In den Fünfzigerjahren hatte er nach und nach die halbe Suarezstraße aufgekauft, über Strohmänner und Immobilienmakler, die niemals wussten, wer ihr Auftraggeber war. Auf die Frage von Freunden, wer all das einmal erben sollte, zuckte er meist vielsagend mit den Schultern. »Das Tierschutzheim wird sich freuen«, pflegte er dann zu antworten und verschmitzt zu lächeln.
    Daniel Singer ließ sich nie in die Karten schauen und das war sein ganzes Leben lang sein größter Trumpf gewesen. So wussten auch die wenigsten von seiner Leidenschaft für alte Manuskripte und Dokumente, Autografen und Briefe. Die Regale an den Wänden seiner Wohnung reichten bis zur Decke und waren voll gestopft mit Raritäten und ungewöhnlichen, seltenen oder wertvollen Papieren. Singer hatte seit fünfzig Jahren jede Versteigerung besucht, in der Interessantes angeboten wurde, selbst in Neuseeland oder in Hongkong. Korrespondenzen aus Königs- und Kaiserhäusern, Geheimdepeschen aus dem diplomatischen Dienst, Handbillets und Anordnungen von Potentaten, Liebesbriefe an Mätressen oder Regentinnen – Singer sammelte sie alle.
    Peter Marzin beachtete das vernachlässigte Geschäft gar nicht und ging daran vorbei, betrat den nächsten Hauseingang und drückte einen Klingelknopf neben einem namenlosen Schild in einem bestimmten Rhythmus. Er hatte den exzentrischen Singer vor Jahren als Kunden kennen- und schätzen gelernt, hatte seine Avancen höflich, aber bestimmt abgewiesen und war schließlich als eine Art Sohn durch den alten Mann akzeptiert worden. Singer, der seine Familie nie erwähnte und die meisten seiner Freunde bereits auf dem Friedhof besuchte, hatte Marzin ins Herz geschlossen. Nicht zuletzt, weil der es geschafft hatte, Singers Maybach57 beim Finanzamt als Dienstwagen abzuschreiben und damit durchzukommen.
    Der alte Mann saß am offenen Fenster und versuchte, mit einer Lupe die verschnörkelte Schrift eines Testaments zu entziffern, das auf einem übergroßen Pergament mit drei eindrucksvollen Siegeln mehrere Grundstücke in Wales an eine Erbengemeinschaft überschrieb.
    »Ich wette, die haben sich danach noch Generationen lang gestritten«, meinte Singer trocken, als Marzin sich einen Sessel aus dem Esszimmer geholt und neben dem großen Lehnsessel Platz genommen hatte. Den roten Zylinder stellte er neben sich auf den Boden.
    »Wie geht es dir?«, fragte er Singer. »Dein Laden verkommt langsam zum verstaubten Panoptikum.«
    »Dann hat er bereits etwas mit mir gemeinsam«, gab der alte Mann vergnügt zurück und legte die Lupe zur Seite. »Es geht mir ausnehmend gut. Solange ich nicht zum Arzt gehe, erklärt mir keiner, dass ich krank bin.« Er hob einen warnenden Zeigefinger und schaute Marzin grinsend an. »Hüte dich vor Frauen und Quacksalbern. Beide kosten dich unnötig Geld und machen krank.«
    »Als dein Steuerberater würde ich sagen – setz beide von der Steuer ab«, gab Marzin lachend zurück, »aber wahrscheinlich hast du recht.« Er deutete auf das Pergament in Singers Schoß. »Was liest du Spannendes?«
    »Ein Lehrstück der Verwirrung aus dem 18. Jahrhundert«, antwortete Singer und tippte mit seinem Zeigefinger auf das Schriftstück. »Ein Testament hat einfach, klar und präzise zu sein, sonst machen nur Notare, Rechtsverdreher, der Staat oder ähnliche Nichtsnutze Geld, das sie nicht verdienen. Etwa: Ich hinterlasse Herrn XY alles, was ich habe. Da gibt es nichts zu deuteln und zu drehen.«
    »Das Tierschutzheim wird sich freuen«, gab Marzin zurück, »die haben für die nächsten hundert Jahre ausgesorgt.«
    Singer lachte und rieb sich die Hände. »Kommt Zeit, kommt Geld«, meinte er fröhlich, sah den Zylinder neben dem Sessel Marzins und wurde ernst. »Was hast du Schönes für mich, Peter?«
    »Ich weiß nicht, ob es schön ist, aber gefährlich war es allemal«, antwortete Marzin und erzählte von dem nächtlichen Abenteuer im Keller Unter den Linden. Aufmerksam hörte Singer zu, während er den

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