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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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Zylinder vorsichtig von allen Seiten untersuchte und mit der Lupe das Siegel betrachtete.
    »Das Wappen der Romanows!«, rief er leise, »der doppelköpfige Adler, seit Iwan III., genannt der Große, das Zeichen des russischen Reiches. Darüber sieht man die Zarenkrone, in seinen Fängen trägt er den Reichsapfel und das Zepter. Auf der Brust des Adlers erkennst du das Hauptwappen Russlands mit dem heiligen Georg als Drachentöter.« Singer beugte sich vor, um besser zu sehen.
    »Kannst du etwas über das Alter sagen?«, fragte Marzin den Experten.
    »In dieser Darstellung ist das Wappen seit 1730 bekannt. Es ist zugleich das Wappen Moskaus, wo die russischen Großfürsten und Zaren residierten … Von 1325 bis zur Gründung Sankt Petersburgs um das Jahr 1703, wenn ich mich recht erinnere. 1917 nahm man den letzten Zaren Nikolai gefangen und erschoss ihn mit seiner Familie ein Jahr später. Damit ging die dreihundert Jahre dauernde Herrschaft der Romanows zu Ende. Da hast du deinen Zeitrahmen.« Singer schaute Marzin forschend an. »Warum hast du den Zylinder nicht geöffnet, Peter?«
    »Weil ich mir dachte, es gäbe vielleicht einen Weg, an den Inhalt zu kommen, ohne das Siegel zu zerstören.«
    Singer nickte. »Es ist ein Behälter aus Karton oder Pappe, mit Leder überzogen. Ich bin dafür, den Boden mit einem Skalpell herauszutrennen und den Inhalt vorsichtig herauszuziehen.« Der Sammler stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm eine offene Schachtel mit mehreren Skalpellen heraus. Dann schaltete er eine starke Lampe an, setzte vorsichtig den ersten Schnitt und wenige Augenblicke später fiel der Boden aus dem Zylinder.
    Singer streifte dünne Baumwollhandschuhe über, griff vorsichtig von unten in den Lederzylinder und zog ein einzelnes, zusammengerolltes Blatt Papier heraus. Es war ebenfalls mit dem Wappen der Romanows versiegelt. Er blickte nochmals zur Kontrolle ins Innere der Röhre, stutzte und zog ein weiteres zusammengefaltetes Blatt aus dem Zylinder. Beide Schriftstücke legte er vor sich auf den Tisch und beugte sich drüber.
    »Womit willst du beginnen?«, fragte er mit angespannter Stimme Peter Marzin, der neugierig über seine Schulter schaute.
    »Mit dem gefalteten Blatt, würde ich sagen«, meinte der Berliner und hielt den Atem an. Als Singer es entfaltete und unter das Licht hielt, konnte man erkennen, dass die Seite mit rund dreißig Zeilen einer ebenmäßigen Handschrift gefüllt war.
    »Das ist ja in kyrillischen Buchstaben geschrieben«, stellte Marzin enttäuscht fest.
    »Was hast du gedacht, etwa auf Deutsch?«, gab Singer zurück. »Nur ein Glück, dass ich Russisch in der Schule gelernt habe, wie alle guten Ostjuden …«
    Marzin zog unangenehm berührt die Schultern hoch. »Gott bewahre mich vor allem, was noch ein Glück ist«, zitierte er die legendäre Tante Jolesch von Friedrich Torberg.
    Singer winkte nonchalant ab. »Das ist lange her, mein Freund.« Dann las er den Text laut vor und übersetzte Satz für Satz.
    Werter Herr!
    Wir, die man die Phantome des Zaren nennt, haben dieses Dokument mit dem Einsatz unseres Lebens und vor den Augen der roten Brut aus Moskau gerettet, um es nach Berlin zu bringen. Treue Offiziere der zaristischen Armee haben es auf dem Weg von der russischen Hauptstadt hierher mit ihrem Leben beschützt, viele sind dafür gefallen. Ihre Namen werden in keinem Geschichtsbuch erwähnt, ihre Leichen wurden neben der Straße verscharrt und ihre Familien warten bis heute vergebens auf ihre Rückkehr.
    Auf Befehl unseres geliebten Zaren Nikolai haben sie alle dafür gebürgt, dass dieses Dokument nicht in die Hände der Bolschewiken fiel und sicher außer Landes kam. In der Fremde zerstreute uns das Schicksal in alle Winde. Manche von uns gingen nach Paris, andere nach Berlin, und ein jahrelanger Streit entbrannte in der Folge darüber, wo das Schriftstück sicher versteckt werden könnte. Endlich, im Jahr 1922, nach der Auflösung der Weißen Armee und vier Jahre nach der Ermordung unseres geliebten Zaren, fand ein loyaler Mitarbeiter der Botschaft durch Zufall den entlegenen Keller, der sich für unser Vorhaben anbot. Wer sollte ein zaristisches Dokument schon in der bolschewistischen Botschaft suchen? Der Rat stimmte zu und alles wurde bis ins Kleinste geplant und vorbereitet.
    Hiermit ist unsere Aufgabe erfüllt. Wir legen das Schicksal dieses Schriftstücks in die Hand Gottes. Ihr, die ihr dieses Dokument gefunden habt, werdet

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