Narr
Karl-Lueger-Ring vor der Universität war gepackt voll mit Menschen, die Fahnen und Spruchbänder schwenkten und laute Slogans johlten. Schön langsam begann Sina zu interessieren, was die Wiener aus ihrer üblichen Lethargie gerissen und sie sogar auf die Straße getrieben hatte.
Sina setzte sich an seinen Schreibtisch und begann unter den Papierbergen nach seinem kleinen Radio zu suchen. Er fand den flachen Weltempfänger, der sogar auf Burg Grub Empfang hatte, inmitten eines Haufens von Einladungen, die aus den Jahren 1995 bis 1999 stammten und die er sowieso nie angenommen hatte. Er nahm sich vor, sie zu entsorgen, aber erst, wenn der Papierkorb geleert worden war. Dann schaltete er das Gerät ein und sogleich fiel die Werbung über ihn her. Sina verzog das Gesicht und sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten bis zur vollen Stunde und damit zu den Nachrichten. Er überlegte, welche der beiden Krawatten er umbinden sollte, und stellte sich wieder vor den Spiegel. Plötzlich war ihm, als starrte ihn jemand an. Misstrauisch schaute er sich um, aber da lag nur die schwarze venezianische Maske auf dem Tisch. »Das Ding macht mich nervös«, murmelte Georg und warf einen Schnellhefter von der Spitze eines der Papierstapel über das schwarze Gesicht.
Als die Nachrichten endlich begannen, hatte er sich für die dezent blau und rot gestreifte Krawatte entschieden. Sina ging und stellte das Radio lauter. Der Sprecher klang aufgeregt. »Solche Szenen hat die österreichische Bundeshauptstadt seit dem 6. Oktober 1848 nicht mehr erlebt. Tausende Demonstranten haben sich überall entlang der Ringstraße zusammengefunden«, verkündete er.
Sina nickte bestätigend. »Richtig, da war was los in Wien. Aber, dass ihr euch in der Redaktion daran erinnert, das verblüfft mich jetzt ehrlich«, kommentierte er, der immer wieder gerne mit den Radiound Fernsehsprechern einen Dialog begann, auch wenn es sendetechnisch eine Einbahnstraße blieb …
»Auslöser für diese Proteste war die Pressekonferenz zum Ende des internationalen Finanzministertreffens in Wien, auf der ein milliardenschweres Sanierungsprogramm aus staatlichen Mitteln für die schwer angeschlagenen Banken beschlossen worden war. Die vorgeschlagene Nulllohnrunde für Angestellte in leitenden Positionen wurde von Vertretern der Institute abgelehnt, dafür aber die Schließung Hunderter Filialen und die Freisetzung Tausender Mitarbeiter für den Arbeitsmarkt angekündigt. Die öffentliche Empörung eskalierte, als kurz danach bekannt wurde, dass die Bonuszahlungen für die verantwortlichen Manager aus eben jenen Subventionen aus Steuergeldern weiter bezahlt werden würden. Für zusätzliche Emotionen sorgte ein Artikel in einer österreichischen Tageszeitung, demnach die beliebte Wirtschaftsministerin Panosch einem Attentat zum Opfer gefallen ist. Ein Sprecher des Innenministeriums wies den Inhalt des Artikels als Spekulation zurück und kündigte rechtliche Schritte gegen das Medium an.«
»Paul, Paul, da hättest du dich lieber beherrschen sollen«, murmelte Sina und zog den Krawattenknoten fest.
»Die Veranstalter der Demonstrationszüge haben unterdessen wiederholt zu einem rein friedlichen Protest aufgerufen. Als Ziele der Protestmärsche sind die Hofburg und das Innenministerium in der Herrengasse angekündigt worden. Als Ort der Abschlusskundgebung wurde durch die österreichische Hochschülerschaft der Märzpark bei der Wiener Stadthalle gemeldet.«
»Respekt! Guter Platz.« Georg nickte anerkennend. »Da haben sie 1848 die fünfunddreißig Toten der Märzrevolution begraben. Passt nur auf, dass euch in der Herrengasse nicht dasselbe wie denen passiert. Schönes Symbol, hätte ich euch gar nicht zugetraut. Nur leider wird es niemand verstehen …«
»Die Polizei wurde erst in höchste Alarmbereitschaft versetzt, nachdem es im Zuge der Ausschreitungen zu mehreren Übergriffen gegen Polizeistationen und islamische Glaubenseinrichtungen gekommen ist. Es gab anschließend in rascher Folge mehrere Schlägereien und Zusammenstöße vermummter, gewaltbereiter Extremisten mit der Exekutive, bei denen zahlreiche Anhänger der rechten und autonomen Szene verhaftet wurden. Mehrere Demonstranten sowie zahlreiche Polizisten wurden verletzt und mussten in Spitäler eingeliefert werden. Ursache für die Eskalation sind der mutmaßliche Mord an der Ministerin Panosch sowie der Bombenanschlag in Kleinwetzdorf in Niederösterreich heute Morgen. Der Pressesprecher des
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