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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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Pergament und die Schriftzüge Zentimeter für Zentimeter untersuchte. »Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit stammt es aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, also nicht aus den letzten Tagen der Romanows. Das Pergament wurde auch nicht in Russland hergestellt, das beweisen die Wasserzeichen und die Struktur der Fasern. Ich würde eher auf den norditalienischen Raum oder Österreich tippen. Genaueres könnte uns eine Untersuchung unter dem Mikroskop verraten.«
    »Es interessiert mich eigentlich nicht so sehr, wo es herkommt, ich würde gerne wissen, was der Text bedeutet«, gab Marzin zurück. »Kannst du mir verraten, was es heißt? Es sind diesmal keine kyrillischen Buchstaben, aber ich kann beim besten Willen keinen Sinn erkennen. Ich sehe zwei Zahlen – die 4 und die 2 – und zwei gleiche Zeilen – die oberste und die letzte. Dann bin ich auch schon am Ende meines Lateins.«
    Daniel Singer schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Peter, ich kann dir nicht sagen, was der Text bedeutet. Das muss eine Art Geheimschrift sein, vielleicht ist die Verschlüsselungsmethode in den Zahlen und Buchstaben darunter enthalten. Ich bin kein Fachmann für Kryptografie.«
    »Aber du kennst jemanden?«, fragte Marzin hoffnungsfroh.
    »Die wirklich guten Leute sind alle bereits gestorben. Das waren die Jungs in Bletchley Park oder um Canaris. Als nach dem Krieg die ersten Rechner aufkamen, da begannen alle sich auf den Faktor Zeit zu verlassen und ließen ihre Intuition verkümmern. So nach dem Prinzip – wenn wir den Kasten nur lang genug rechnen lassen, dann kommt er schon irgendwann mit dem Ergebnis …« Singer lächelte. »Die Franzosen waren auch noch wirklich stark, selbst in den Sechziger- und Siebzigerjahren noch. Die Armee entschlüsselte die gefälschten Papiere von Rennes-le-Château, und die waren eine wirklich harte Nuss.« Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Aber das ist lange vorbei. Heute sind wir bei digitalen SSL-Schlüsseln, aber nicht mehr bei den klassischen Methoden.«
    Marzin schien enttäuscht und ging ans offene Fenster. »Ich lass dir das gute Stück da, vielleicht fällt dir ja etwas ein. Wenn nicht, dann hast du ein seltsames Dokument mehr in deiner Sammlung. Ich geh heute früh schlafen, die Nacht war anstrengend genug und morgen hab ich einen harten Tag. Viel zu viele Termine und kaum Zeit zum Essen.«
    Als Marzin um die Ecke auf den Kaiserdamm einbog, schaute ihm Daniel Singer von seiner Wohnung aus noch lange nach. Dann ging er in die Küche, schenkte sich ein Glas Orangensaft ein und setzte sich an den Schreibtisch, auf dem immer noch das Pergament lag. Er betrachtete es nachdenklich, bevor er zum Telefon griff und eine Nummer wählte, die er seit Langem auswendig kannte. Es dauerte geraume Zeit, bis die Verbindung zustande kam. Als schließlich am anderen Ende abgehoben wurde, meldete sich der Teilnehmer nur mit einem »Hallo Daniel«!
    Singer lehnte sich vor und ließ die dunkelgrünen Zeilen nicht aus den Augen, während er sprach. »Hallo Oded! Du wirst es nicht glauben, aber ein drittes Dokument ist aufgetaucht. Es liegt vor mir. Ich glaube, wir sollten rasch etwas unternehmen.«

Buch 2
Die Gespielin

Universität, Innere Stadt, Wien/Österreich
    O bwohl Georg Sina es für Irina und damit gerne getan hatte, fühlte er sich in dem dunklen Anzug und dem weißen Hemd wie ein aufgeputzter Pfingstochse vor dem Almabtrieb. Das Einzige, das von seinem gewohnten Erscheinungsbild übrig geblieben war, waren die Sportschuhe an seinen Füßen. Kommt vielleicht nicht so gut, schmunzelte er, aber das ist mir jetzt auch egal. Vielleicht war es sogar an der Zeit, passende Schuhe anzuschaffen. Wer weiß, welche Überraschungen noch auf ihn warteten. Skeptisch beäugte sich Georg im Spiegel. Eigentlich war es gar nicht so lange her und er hatte sich in so einem Aufzug richtig wohlgefühlt. Aber das war in einem anderen Leben gewesen und das war lange vorbei.
    Vor der Universität lärmte die Protestkundgebung der Hochschülerschaft, nur unterbrochen von kurzen Pausen, in denen die üblichen Reden gehalten wurden, nach denen frenetischer Applaus aufbrandete. Ich werde den Hinterausgang in die Reichsratstraße benutzen müssen, sonst kriege ich auch noch ein Ei oder einen Joghurtbecher ans Revers, dachte Georg und schloss das Fenster. Er hatte während seines Studiums und seiner Lehrtätigkeit schon etliche Demonstrationen miterlebt, aber einen solchen Aufruhr hatte er noch nie gesehen. Der gesamte

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