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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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waren neu gezogen worden, die Beratungen hatten Vertreter von mehr als zweihundert Staaten, Fürstentümern, freien Reichsstädten und Körperschaften in Wien an den Verhandlungstisch gezwungen. Es war ein ungeheures Vorhaben gewesen, das mehrfach vom Scheitern bedroht war. Aber die eiserne Hand Metternichs und sein ungewöhnliches Verhandlungsgeschick hatten das Ruder immer wieder herumgerissen.
    »Bist du jetzt zufrieden?«, tuschelte Baron Wessenberg lächelnd, während Da Silveira wieder zu seinem Platz zurückging.
    Metternich wandte sich dem neben ihm stehenden österreichischen Diplomaten zu, der wie er als Geheimer Rat im Dienst des Kaisers stand, und nickte.
    »Ja, jetzt bin ich es zufrieden«, erwiderte er langsam, bevor die Delegationen im Saal in Jubel und Applaus ausbrachen. Sein Palais am Ballhausplatz, das Außenministerium, war für fast ein Jahr das politische Zentrum Europas gewesen, Wien das glänzende Parkett, auf dem der Kongress tanzte. Kaiser Franz I. gefiel sich in der Rolle des Gastgebers, aber sein Kanzler spielte die entscheidende Rolle. Mit der heutigen ersten und einzigen Vollversammlung des Kongresses war Metternich am Gipfel seiner Macht angelangt und blickte zu Recht stolz in die Runde. Große und weitreichende Entscheidungen in Europa waren getroffen und zukunftsweisende Beschlüsse gefasst worden. Ländergrenzen waren neu gezogen, die Verhältnisse vor den napoleonischen Kriegen wiederhergestellt und gleichzeitig die Kleinstaaten abgeschafft worden. Metternich hatte alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte.
    Aber da war noch etwas … Der Kanzler nickte rasch Wessenberg zu und verließ eilig den Saal, ohne sich umzublicken. Ohne die livrierten Diener zu beachten, die ihm die großen Türen aufhalten wollten, ging er durch eine Tapetentür und über eine schmale Treppe in sein Kabinett. Niemand sah ihn kommen und Metternich ließ sich zufrieden in seinen Sessel vor dem reich verzierten Schreibtisch fallen. Für einen kurzen Moment überlegte er, doch dann zog er die rechte Lade seines Schreibtisches auf, betätigte einen versteckten Mechanismus und ein kleines, aber langes Geheimfach öffnete sich auf Federdruck. Metternich griff rasch hinein, holte drei dünne Papierzylinder aus dem Versteck und legte sie nebeneinander auf die Tischplatte. Kaum hatte er das schmale Fach wieder zugedrückt, klopfte es auch schon an der Geheimtüre seines Bureaus und Metternich lehnte sich zurück, warf einen Blick auf die Uhr und sagte leise: »Treten Sie ein!« Der Kanzler schätzte Pünktlichkeit. Es war höchste Zeit für seine Rückversicherung …
    Als der letzte Tag des Kongresses mit einem fulminanten Abendempfang in der Hofburg zu Ende ging, war der Fürst einer der Letzten, der die Soiree verließ. Nur wenige Minuten später erreichte seine Kutsche den Hof des »Palais Metternich« und der Kanzler atmete auf. Es war vollbracht. Er, Clemens Metternich, war der erfolgreichste Diplomat Europas und einer der mächtigsten Männer des Kontinents. Ein Ruhm, den ihm nun keiner mehr nehmen konnte.
    Er überquerte den dunklen Hof und nahm eine Seitentreppe, nachdem er seine Bediensteten mit einer Handbewegung entlassen hatte. Ein kleiner Kerzenleuchter stand bereit und in seinem warmen Licht stieg Metternich die kleine, gewundene Wendeltreppe aus Holz und Metall hinauf, die im hinteren Teil des noblen Stadtpalais drei Stockwerke nach oben führte. Sie endete in einem schmalen Gang und vor einer unscheinbaren Türe, zu der nur Metternich und ein langjähriger Vertrauter die Schlüssel hatten. Hier oben, unter dem Dach, war die Luft warm und der Sommer kündigte sich an. Es roch ein wenig nach Staub und nach alten Akten.
    Der Kanzler zögerte einen Moment, bevor er den großen eisernen Schlüssel im Schloss drehte und die Tür öffnete. Dann gab er sich einen Ruck und trat ein. Der Raum war spartanisch eingerichtet, mit einem Eisenbett und einem Waschtisch, einem kleinen Beistelltischchen und ein paar bedeutungslosen Bildern an der Wand. Die Einrichtung wirkte zusammengewürfelt, aber das war nebensächlich. Der Bewohner des Raumes unter dem Dach war seit Langem blind, seit mehr als einem Jahrzehnt schon. Er konnte auch nicht mehr gehen und nur mühsam sprechen, aber sein messerscharfer Verstand erstaunte Metternich immer wieder. Es war dieser Mann gewesen, der einen so entscheidenden Anteil an den Grundideen hinter dem Wiener Kongress und am schnellen Aufstieg des Fürsten Metternich gehabt hatte.

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