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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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Auch wenn ihn nie jemand zu Gesicht bekommen hatte.
    Der alte Staatsmann trat an den schweren Lehnstuhl, der vor einem der offenen Dachfenster stand, und legte die Hand sanft auf die Lehne, bevor er den Leuchter auf das Fensterbrett stellte. Im Licht der flackernden Kerze, tief versunken in den Polstern, lag ein Kind im Greisenalter, die Augen geschlossen, sein Gesicht faltig und eingefallen wie das einer Mumie. Schmale, dünne Hände, von einer pergamentartigen Haut überzogen, durch die sich Venen wie blaue Fäden abzeichneten, hielten einen abgegriffenen Stock mit silbernem Knauf fest. So lange Metternich sich erinnern konnte, hatte er diese Hände nie ohne diesen Stock gesehen.
    Der Mann im Lehnstuhl war nun kaum siebzig Jahre alt und sah aus wie hundert. Eigentlich hätte er bereits lange tot sein müssen. Eigentlich hätte er nie leben dürfen, korrigierte sich Metternich und schaute auf die kindliche Figur in dem abgewetzten Hausmantel hinunter. Und doch … Da war er und der Tod wollte ihn anscheinend nicht haben.
    »Du hast es vollbracht, Clemens, da ist Singen auf den Straßen«, flüsterte eine dünne Stimme, die nach raschelndem Seidenpapier klang. Der zu große Kopf in den Kissen des Lehnstuhls sah aus wie ein Totenschädel, in dem sich nur die blutleeren Lippen unmerklich bewegten.
    »Jauerling, du hast ein beneidenswertes Gehör«, gab Metternich zurück und trat ans Fenster, um hinunterzublicken. Eine kleine Gruppe von Diplomaten zog nach einem ausgiebigen Bordellbesuch vorbei, ausgelassen lachend und singend wie auf einem Volksfest.
    »Das Einzige, was mir noch geblieben ist«, kam es aus dem Lehnstuhl wie ein Hauch aus einem anderen Leben. »Ein blinder Wicht, der nicht mehr gehen kann und den selbst der Teufel nicht will. Du hast gewonnen, Clemens, und ich kann nicht mehr verlieren.«
    »Wir können verlieren, so lange wir spielen«, gab Metternich zu bedenken und zog sich einen Sessel näher an den Lehnstuhl. Jauerling hustete ein wenig. Oder lachte er? Es klang nach reißenden Papierstreifen.
    »Deswegen habe ich heute Nachmittag die Dokumente ausgehändigt«, sagte der Kanzler leise. »Niemand kann in die Zukunft blicken, nur die Vermessenen glauben es.« Metternich verstummte und schaute der Kerze zu, die im Luftzug der Nacht flackerte.
    »Alle vier?«, fragte der Zwerg und Metternich schüttelte den Kopf, obwohl Jauerling ihn gar nicht sehen konnte.
    »Nein, nur drei. Das vierte habe ich mit einem Boten nach Berlin geschickt, an Wilhelm von Humboldt.« Der Kanzler spürte, dass Jauerling etwas sagen wollte, und kam ihm zuvor. »Einem zuverlässigen Boten, sei unbesorgt, mein Freund.« Die Lippen des Zwerges verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, das die Falten in seinem Gesicht noch vertiefte.
    »Erinnerst du dich an den alten General de Ligne?«, fragte der Kanzler und Jauerling nickte unmerklich. »›Der Kongress kommt nicht vom Fleck, er tanzt‹, hatte er gesagt.« Metternich kicherte. »Wenn er wüsste, wie sehr er sich geirrt hat, der alte Geizhals. Jeden einzelnen Florentiner war dieser Kongress wert, jeden einzelnen verdammten Gulden.« Er wurde wieder ernst. »Nun ist die Saat ausgebracht und was immer auch passieren sollte, mit mir, mit dir, mit diesem Land, irgendwann wird jemand die ganze Wahrheit erfahren.«
    »Bist du zufrieden?«, flüsterte Jauerling und der Kanzler seufzte.
    »Dasselbe hat mich der Wessenberg auch gefragt nach der Unterzeichnung. Ja, das bin ich, aber vor allem, weil wir beide unsere Trümpfe gut gespielt haben. Weißt du, Jauerling, dass du mehr Anteil an diesem Kongress hattest als der Kaiser? Du solltest zufrieden sein.« Metternich wartete darauf, dass der greise Zwerg etwas antworten würde, aber Jauerling blieb stumm und der Fürst fragte sich, ob er nicht eingeschlafen war. Er nahm den Kerzenleuchter vom Fensterbrett und wandte sich zur Tür.
    »Ich ziehe nun schon seit siebzehn Jahren mit dir durch Europa«, kam es da überraschend klar aus dem Lehnsessel. »Erst Dresden, dann Berlin, schließlich Paris und nun seit langen Jahren Wien. Ich bin müde, Clemens, ich bin so müde und ich kann nicht sterben.« Jauerling holte röchelnd Luft und Metternich lehnte sich vor, damit der alte Freund sich nicht so sehr anstrengen musste. Der Zwerg konnte genau spüren, wie weit jemand weg war.
    »Danke. Ich habe dich beraten, so gut ich konnte, habe dir das Archiv des Schwarzen Bureaus übergeben und dir Dinge beigebracht, die nur wenige wissen. Ich habe dir

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