Narrenspiel: Peter Nachtigalls dritter Fall (German Edition)
keiner, wenn Kinder vernachlässigt oder ermordet werden. Der Lehrer erklärte uns, Hans-Jürgens Verhalten wäre untragbar, er dusche nach dem Sport nicht mehr mit den anderen, schließe sich zum Umziehen in eine Toilette ein. Als seine Mitschüler versuchten, über die Kabinenabtrennung zu schauen, kam es zu einer wilden Prügelei. Bis dahin hatte sich mein Sohn noch nie geprügelt. Wir waren schockiert.«
»Es ist also etwas während dieses Zeltlagers passiert, aber was?«
»So genau haben wir das nie rausfinden können. Besorgt fragten wir bei anderen Familien nach und auch dort zeigten einige Kinder seltsame Verhaltensänderungen. Nach vielen Gesprächen wurde nur so viel deutlich: Ein übereifriger Betreuer, der vielleicht sehr eigennützige Motive hatte, wetterte in einer Tour gegen die fleischliche Lust als Sünde und zeigte den Jungs ein paar Tricks, um das ›unzüchtige Verlangen‹ unter Kontrolle zu bringen. Vielleicht wollte er auf diese Weise verhindern, dass es zu Ferienlagerschwangerschaften kam. Wäre doch auch peinlich gewesen. Jedenfalls zeigte er den ganz harten Jungs, wie sie sich Schmerzen zufügen konnten: Sie lernten sich zu geißeln. Ich persönlich glaube, der Betreuer war ein Sadist, der sich dadurch befriedigte, dass er die Jungs, die sich nicht selbst trauten, mit der Peitsche schlug.«
»Sie wollen mir sagen, Ihr Sohn habe sich die Verletzungen selbst zugefügt? Aus religiösem Fanatismus? Es müssen tiefe Wunden gewesen sein – so etwas fällt Eltern doch auf.«
»Hans-Jürgen zog sich immer weiter von uns zurück. Manchmal bekamen wir ihn tagelang nicht zu Gesicht. Keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr, keine gemeinsamen Ausflüge an den Badesee, nichts.«
Wilhelm Mehring starrte noch immer beharrlich auf den Boden, doch die Vögel waren längst weitergezogen.
»Sie haben ihn sicher auf sein Verhalten angesprochen?«
»Wir haben es zumindest versucht. Aber er sprach nicht mit uns. Nur das Notwendigste, wie: Gibt es keine Seife mehr? Oder warum hast du mir keine Margarine mitgebracht? Und er tat unverständliche Dinge. Sprang von einer hohen Mauer und brach sich den Unterarm. Sehen Sie: Der Junge wurde uns unheimlich. Als seine Mutter starb, habe ich ihn vielleicht auch ein wenig aus den Augen verloren. Krebs ist heimtückisch und meine Frau brauchte mich. Jedenfalls erschrak ich fürchterlich, als ich bemerkte, wie finster und abweisend er geworden war.«
»Wie haben Sie denn von den Narben erfahren?«
»Ich überraschte ihn dabei, wie er gerade sein T-Shirt über den Kopf zog, um duschen zu gehen. Er hatte vergessen abzuschließen. Da sah ich die schrecklichen Wunden. Einige schon vernarbt, andere noch frisch verschorft. Da er ein Gespräch verweigerte, besorgte ich ihm Wundsalbe, ließ sie im Bad für ihn liegen und sprach nie mehr davon. Ich forschte auf eigene Faust nach.«
Peter Nachtigall war tief bewegt. Wie sollte man auch mit solch einer Situation umgehen? Heute wäre vielleicht der Weg zum Psychotherapeuten eine Chance – aber mit diesem Hilfsangebot musste der Jugendliche einverstanden sein. Ohne innere Bereitschaft konnte die Therapie keine Wirkung zeigen.
»Sie haben doch bestimmt mit dem damaligen Leiter des Zeltlagers über das Problem gesprochen, oder?«
»Ja, selbstverständlich. Zusammen mit den anderen betroffenen Familien. Aber wir konnten nichts nachweisen. Also war das Schlimmste, das dem Betreuer passierte, eine kleine Rüge vonseiten der Kirche, der zeitweilige Ausschluss von der Organisation und Durchführung solcher Freizeitlager und die Versetzung in einen anderen Sprengel.«
In den Augen des alten Mannes standen Tränen. Rasch wandte er den Blick wieder ab und sah auf den Teich hinaus.
»Ihr Sohn hat dieses Verhalten aber nicht beibehalten.«
»Er trat aus der Kirche aus. Kurz, bevor er heiratete. Seine Söhne sind nicht getauft und besuchten nie die Christenlehre. Ich habe mich da nie eingemischt. Es war seine Familie.«
Zwei Enten ruderten gemütlich über den See. Idyllisch, war es hier. Nachtigalls Gedanken lösten sich von der Tragik der Familie Mehring und begannen sich um sein eigenes Leben zu drehen. Hier würde er gerne mit Conny herkommen – falls sie überhaupt je wieder mit ihm irgendwo hingehen würde. Der Gedanke versetzte ihm einen schmerzhaften Stich. Die Situation war alles andere als geklärt.
»Ihr Sohn hat einen Drohbrief bekommen, in dem ihm mit seiner Ermordung gedroht wurde. Der Briefkopf wies die Mind Watchers als
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