Narrenspiel: Peter Nachtigalls dritter Fall (German Edition)
Spatzen umringt waren, die fröhlich pfeifend von überall her herbeieilten.
»Keine Sorge. Ich bin nicht senil – ich habe nicht vergessen, dass Sie sich mit mir über Hans-Jürgens Narben unterhalten wollen.« Dabei zog er eine Tüte mit Brot aus der Tasche und begann, kleine Stückchen abzubrechen und den Vögeln zuzuwerfen. Eilig flogen diese herbei und wieder davon, um, von den anderen unbedrängt, fressen zu können.
»Bestimmt glauben Sie den Grund für die Narben schon zu kennen, sonst wären Sie nicht hier.«
Peter Nachtigall ließ ihm Zeit. Er wusste, es war nicht nötig, den Vater zu drängen und falls etwas offen blieb, konnte er später immer noch nachfragen.
»Wahrscheinlich würde ich an Ihrer Stelle genauso denken. Familiäre Gewalt! Heute verpönt, damals ein durchaus legitimes und akzeptiertes Mittel der Erziehung. Bestimmt hat der Vater da Hand angelegt und den Jungen brutal verprügelt! Was denken Sie: mit einem Stock? Mit einer Peitsche?«, seine Augen waren fest auf den Boden zwischen seinen Füßen gerichtet.
»Natürlich sind Sie jetzt keineswegs erstaunt darüber, dass ich leugne, meinen Sohn geschlagen zu haben. Es überrascht Sie nicht. Sie haben das erwartet. Wer würde so etwas heute schon gerne zugeben, nicht wahr? Und es gibt ja praktischerweise keine Zeugen mehr.«
»Ihr Sohn hatte auch diverse Knochenbrüche.«
»Ja. Immer wieder musste er irgendetwas eingipsen lassen. Ein paar Rippenbrüche waren dabei und üble Prellungen. Aber ich habe ihn nicht geschlagen. Ich habe ihm nichts gebrochen. Nie!«, beteuerte Herr Mehring. Dann schwieg er und starrte verloren auf die leere Tüte in seiner Hand. Bastelte er jetzt an einer möglichst glaubhaften Geschichte? Nachtigall beschloss, ihm möglichst keine Zeit für fantasievolle Ausflüchte zu lassen.
»Wie kam er dann zu diesen Verletzungen?«
»Unsere Familie war früher streng katholisch.«
Was sollte das?, überlegte Peter Nachtigall. Wir sind streng katholisch, wir schlagen nicht? Da würde er sich informieren lassen müssen. Sein Bezug zu Religionsgemeinschaften beschränkte sich auf das Feiern der Festtage, Weihnachten und Ostern.
Der ältere Herr neben ihm schien seine Verwirrung zu bemerken. »Das soll nicht heißen, katholisch erzogene Menschen schlagen ihre Kinder nicht. Es bedeutet ein Bewusstsein für Sünden zu haben. Im katholischen Glauben gibt es viele Sünden, leichte und schwere. Wo viele Verhaltensweisen als Sünde definiert werden, gibt es folgerichtig auch Strafen. Die 10 Gebote sind streng zu beachten und Verstöße sind zu beichten, zum Beispiel Ehebruch. Die Strafe legt ihr Beichtvater fest. Zu ihm sollten sie großes Vertrauen haben, er wird alles für sich behalten und eine angemessene Sühne festlegen – zum Beispiel eine bestimmte Anzahl von Gebeten oder Ähnliches.«
»Vom Beten stammen die Narben nicht!«, stellte Nachtigall aggressiv klar.
»Nein, selbstverständlich nicht. Hans-Jürgen war etwa 14 Jahre alt, als wir ihn in ein christliches Ferienlager schickten. Die waren so selten – wir hatten auch nur durch Mundpropaganda davon erfahren. Durch die Religionszugehörigkeit seiner Familie hatte der Junge viele Anfeindungen hinnehmen müssen – wir hielten es für eine gute Idee, fast wie eine Entschädigung. Doch es hat gar nicht lange gedauert, da fiel uns eine gravierende Veränderung in seinem Wesen auf. Er wurde mürrisch, wortkarg und leichtsinnig. ›Wenn Gott nicht will, dass ich mir was tue, wird er schon auf mich aufpassen‹, das war sein Argument.«
»Er suchte einen Existenzbeweis?«
»Ja, vielleicht trifft es das am besten. Wenn es dich gibt, dann wirst du dafür sorgen, dass ich keinen Schaden nehme, und wenn ich mir doch was breche, habe ich wohl vorher gesündigt.«
»Aha. Aber ist das nicht eher pubertär als religiös?«
»Sicher. Täglich sterben unschuldige Menschen und Gott rettet sie nicht. Aber er war unseren Argumenten nicht zugänglich.«
In der Stille, die sich zwischen ihnen ausbreitete, war jedes Umweltgeräusch zu hören.
»Aber das war nicht alles. Er begann, sich beim Duschen einzuschließen, wir mussten an seine Zimmertür klopfen, durften den Raum nicht mehr betreten. Wir glaubten, er verhalte sich nur zu Hause so, bis sein Klassenlehrer einen überraschenden Hausbesuch bei uns machte. Sie wissen ja, früher war das üblich, um sich ein Bild vom sozialen Hintergrund des Schülers zu machen, aber heute kommt keiner mehr gucken und so merkt eben auch
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