Narrentod
Distanz. Dennoch gab ich die Hoffnung nicht auf. Das sollte sich schließlich auszahlen.
Unvermittelt bewegte sich nämlich eine Handvoll bunter Bonbons direkt auf mich zu. Ich erkannte sofort meine Chance und versuchte darum, besonders hoch zu springen. Dazu ging ich erst kurz in die Knie, bewegte beide Ellenbogen ruckartig nach hinten und schnellte danach wie eine Feder in die Höhe. Beim Ausholen erwischte ich leider einen etwa gleichaltrigen Jungen, der schräg hinter mir stand. Genauer gesagt: Ich rammte ihm mit voller Wucht den rechten Ellenbogen ins Gesicht. Erst aber, als ich mit meiner Beute gelandet war und mir eine entrüstete Dame auf die Schulter klopfte, erblickte ich den verletzten Hintermann mit seiner blutenden Nase.
›Grobian. Kannst du nicht aufpassen ?‹ , fuhr sie mich an. Der schniefende Bubi leckte sich derweil das Blut von der Oberlippe und überließ das Reklamieren seiner Mutter. Verächtlich wandte ich mich darum gleich wieder dem Fulehung zu, ohne überhaupt auf ihre Frage zu reagieren. Da hatte ich die Rechnung aber ohne die entrüstete Mami gemacht. Sie packte mich erneut an der Schulter und schüttelte mich unsanft.
»He, du Schnuderi. Du entschuldigst dich jetzt sofort bei Beni und schenkst ihm deine Bonbons als Wiedergutmachung«, forderte sie.
Das kam für mich aber überhaupt nicht infrage. Die ergatterten Süßigkeiten wollte ich unter keinen Umständen wieder hergeben. Das demonstrierte ich mit einer kühnen Behauptung.
»Tut mir leid. Meine Mutter hat mir verboten, Fremden meine Karamelle zu verschenken .« Keine Ahnung, wie ich auf diese Ausrede kam. Vielleicht war es eine plumpe Umkehrung des elterlichen Verbotes, mir von fremden Männern Bonbons schenken zu lassen. Hauptsache, es funktionierte.
Die aufgebrachte Dame kümmerte sich inzwischen mit einem Papiertaschentuch um die malträtierte Nase ihres kleinen Lieblings und warf mir dabei vernichtende Blicke zu. Sonst nichts. Ich war völlig überrascht, sie mit einem einzigen Argument zum Verstummen gebracht zu haben. Weil mich dennoch ein schlechtes Gewissen zu beschleichen begann, verdrückte ich mich in einen anderen Teil des wartenden Klüngels. Leider wurde dieser Bereich vom Gehörnten völlig übersehen, und ich musste mich an jenem Tag mit drei mickrigen Mikamus zufriedengeben .«
»Da hat sich dein egoistisches Naturell aber schon früh offenbart«, meint Jüre spöttisch.
»Ich und egoistisch? Sag mir: Wann hast du je darunter leiden müssen ?« , wehre ich mich.
»Ich scherze, Hanspudi. Vergiss es. Was hast du inzwischen eigentlich über Beat Dummermuth herausgefunden ?« , fragt er und nimmt einen großen Schluck Rugenbräu.
»Dummermuth ist 28-jährig und bereits verwitwet. Er wohnt im Gwatt, hat eine eigene Informatikbude und macht bei der sozialistischen Partei der Schweiz mit. Er würde in einem Jahr gern nebenamtlicher Gemeinderat, auf Kosten von Dolores Akert vermutlich .«
»Aha, interessant. Das sind also innerparteiliche Konkurrenten ?«
»Stimmt. Dann gibt es noch die erwähnte Skilagergeschichte mit Lilo Barben-Bigler. Und Dummermuths überdurchschnittliches Engagement für die Prögu - Informatik dürfen wir auch nicht außer Acht lassen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass er für den Schulauftrag nicht wegen , sondern eher trotz der Rektorin berücksichtigt wurde. Sie hat nämlich mir gegenüber eine Bemerkung wegen hoher Rechnungen gemacht. Die Bevorzugung Dummermuths scheint, so wie es tönt, eher von Alfred Weibel zu kommen. Der hält große Stücke auf ihn .«
Jüre hebt den Blick zur vierköpfigen Metallskulptur von Schang Hutter hoch, als glaubte er, dort irgendwelche Antworten zu finden. Soviel mir bekannt ist, trägt die Figur den Titel Veitstanz, wie die gleichnamige Nervenkrankheit. Hilft das weiter? Fast macht es den Anschein. Mehrere feingliedrige Gestalten sind am Kopfende zusammengeschweißt. Jede Figur erschließt mit ihren Extremitäten einen eigenen Luftraum. Sie tanzen scheinbar auf verschiedenen Hochzeiten. Trotzdem hängen sie in Gedanken respektive am Kopf untrennbar beisammen.
Ähnlich unsere Verdächtigen: Ihnen können zwar die unterschiedlichsten Motive nachgewiesen werden. Diese Motive weisen zugegebenermaßen auf ganz verschiedene Tänze hin, um ebenso viele heiße Breis . Dennoch treffen sich alle Tänzer im selben Reigen der Einheitslösung ihrer vielfältigen Probleme. Jeder mag denselben Gedanken geteilt haben: Nämlich den Dummermuth von der
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