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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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andere Ausschweifungen, Zorn, Streit, Händel, üble Nachrede, das einfache Volk zu quälen, es zu berauben, von ihm Zahlungen, Gaben und Opfer zu verlangen. Jeder gerechte Sohn seiner Mutter, der heiligen Kirche, sollte all das von sich weisen, ihm entsagen, es wie den Teufel hassen und Ekel davor empfinden . . .«
    Das weitere Vorlesen ging im Tumult und Getümmel unter, währenddessen entfernte sich der Goliarde, wie Reynevan beobachtete, still und leise mit seinem Pergament. Die Raubritter schrien, fluchten, rempelten sich an, packten einander am Kragen, ja, es zuckten bereits die Klingen in ihren Scheiden.
    Samson Honig stieß Reynevan in die Seite.
    »Mir scheint«, brummte er, »du solltest besser mal einen Blick aus dem Fenster werfen. Und zwar schnell.«
    Reynevan sah durchs Fenster. Und erstarrte.
    Drei Reiter ritten langsam in den Schönauer Hof.
    Wittich, Morold und Wolfher Sterz.

Achtzehntes Kapitel
    in dem die Moderne mit einem Schlag Eingang findet in Tradition und Gepflogenheiten der Ritterschaft und Reynevan   – als wolle er den Titel des Buches rechtfertigen   – aus sich einen Narren macht. Und sich dazu auch noch bekennen muss. In Gottes freier Natur.
    R eynevan hatte allen Grund, wütend und beschämt zu sein. Beim Anblick der in Schönau einreitenden Sterz’ ergriff ihn eine törichte, unsinnige Angst, und von dieser ließ er sich ebenso töricht und unsinnig leiten. Seine Scham war umso größer, als er sich dessen völlig bewusst war. Anstatt seine Situation nüchtern und klar einzuschätzen und nach einem durchdachten Plan zu verfahren, reagierte er wie ein aufgescheuchtes, gehetztes Tier. Er sprang aus dem Fenster des Alkovens und rannte davon. Zwischen den Schuppen und den Hütten hindurch, auf das Schilfgestrüpp am Ufer zu, das ihm, zumindest schien es ihm so, ein sicheres und in Dunkelheit gehülltes Asyl gewähren würde.
    Es retteten ihn das Glück und der Schnupfen, der Stefan Rotkirch seit einigen Tagen quälte.
    Die Sterz’ hatten nämlich ihren Raubzug gut vorbereitet. Sie ritten zu Dritt nach Schönau hinein. Die anderen drei, also Rotkirch, Dieter Haxt und Uhu von Knobelsdorf, waren hingegen schon früher zu diesem Weiler gelangt und hatten unbemerkt die wichtigsten Fluchtwege besetzt. Um ein Haar wäre Reynevan dem hinter dem Schuppen postierten, erkälteten Rotkirch direkt in die Arme gelaufen, hätte dieser nicht geniest, und er nieste so heftig, dass sein erschrockenes Pferd ausschlug und die Holzbretter traf. Obwohl die Angst Reynevans Hirn eingefrorenhatte und ihm fast die Gewalt über seine Beine raubte, hielt er doch noch rechtzeitig an, kehrte um, sauste an der Hütte unmittelbar neben dem Misthaufen vorbei, kroch auf allen vieren unter dem Zaun durch und verbarg sich hinter einem trockenen Reisighaufen. Er zitterte so sehr, dass er glaubte, der ganze Reisighaufen bebe, von einem Sturm geschüttelt.
    »Pst. Pst, Junker!«
    Neben ihm, hinter dem Zaun, stand ein etwa sechsjähriger Junge mit einer Filzkappe und in einem viel zu großen Hemd, das ihm bis zur Mitte seiner schmutzigen Waden reichte.
    »Pst! In die Käskammer, Junker . . . In die Käskammer . . . Dort lang!«
    Er blickte in die angedeutete Richtung. Vielleicht einen Steinwurf entfernt stand ein viereckiger Holzbau, eine Bude mit einem spitzen Schindeldach, die sich etwa drei Klafter über der Erde auf vier soliden Pfählen erhob. Diese Käskammer genannte Bude erinnerte eher an einen großen Taubenschlag. Aber noch mehr an eine Falle.
    »In die Käskammer, drängte der Junge, snell, slüpft da rein!«
    »Da?«
    »Ja. Wir verstecken uns alle immer dort.«
    Reynevan diskutierte nicht, schon deshalb nicht, weil ganz in der Nähe jemand pfiff und ein lautes Niesen und der Hufschlag das Herannahen des verschnupften Rotkirch ankündigten. Zum Glück bog Rotkirch zwischen den Hütten ab und ritt geradewegs auf das Gänsegatter zu; die Gänse erhoben ein wildes Geschrei, das jeden anderen Lärm übertönte. Reynevan wusste, jetzt oder nie. Gebückt rannte er am Reisighaufen entlang, erreichte die Käskammer   – und erstarrte. Es gab keine Leiter, und es konnte keine Rede davon sein, an den geglätteten Eichenpfählen hochzuklettern.
    Er verfluchte seine eigene Dummheit und wollte sich schon wieder zur Flucht wenden, als er ein leichtes Zischen hörte und von oben aus einer schwarzen Öffnung eine verknotete Schnur wie eine Schlange herabglitt.
    Reynevan umklammerte die Schnur mit Händen und Füßen und war

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