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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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eine Krankheit von einer Erkältung und momentanen Schwäche unterscheiden. Zu seiner Verwunderung kam aus seinem Mund statt kluger Reden nur ein schreckliches Krächzen. Er hustete stärker, der Hals schmerzte und brannte. Er strengte sich an und hustete noch einmal. Und verlor vor Anstrengung das Bewusstsein.
     
    Er hatte Fieberträume. Träumte. Von Adele und von Katharina. In seiner Nase der Duft von Puder, Rouge, Minze, Henna und Kalmus. Hände und Finger erinnerten sich an Berührungen, an Zartheit, Härte, Glattheit. Wenn er die Augen schloss, sah er die sittsame, schamhafte
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– die kleinen, runden Brüste mit den vor Verlangen steifen Brustwarzen. Die schmale Taille, die schmalen Hüften. Den flachen Bauch. Die schamhaft angezogenen Schenkel . . .
    Er wusste nicht mehr, was zu welcher gehörte.
     
    Zwei Wochen kämpfte er gegen die Krankheit an, bis zu Allerheiligen. Dann, als er wieder genesen war, erfuhr er, dass Krisis und Wende gegen Simon und Juda eingetreten waren, wie gewöhnlich, am siebten Tag. Er erfuhr auch, dass Bruder Tranquilus die Kräutertränke und Aufgüsse, die ihn gerettet hatten, gebracht hatte. Scharley und Horn hatten sie ihm eingeflößt. Und abwechselnd bei ihm gewacht.

Achtundzwanzigstes Kapitel
    in dem unsere Helden weiterhin, um die Worte des Propheten Jesaja zu gebrauchen, sedentes in tenebris sind   – was bedeutet, die Haft im Narrenturm dauert an. Später wird dann auf Reynevan Druck ausgeübt. Teilweise mit Argumenten. Teilweise mit   – Instrumenten. Und weiß der Teufel, wie es geendet hätte, wären da die während des Studiums geschlossenen Bekanntschaften nicht gewesen.
    I n den zwei Wochen, die die Krankheit in Reynevans Lebenslauf getilgt hatte, hatte sich im Turm nicht viel geändert. Es war noch kälter geworden, was aber nach Allerseelen nicht unbedingt als Phänomen gelten konnte. Auf der Speisekarte überwog der Hering, was an den nahenden Advent gemahnte. Im Prinzip schrieb das Kirchenrecht vor, erst an den vier Sonntagen vor Weihnachten zu fasten, aber die Frömmeren   – und die Ritter des Heiligen Grabes gehörten zu ihnen   – begannen schon früher zu fasten. Was andere Ereignisse betraf, so bekam Nikolaus Koppirnig gleich nach St. Ursula solch grässliche und andauernde Furunkel, dass sie im
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des Spitals aufgeschnitten werden mussten. Der Astronom verbrachte einige Tage nach der Operation im Hospital. Von den dortigen Bequemlichkeiten und der Verpflegung erzählt er so lebhaft, dass die anderen Pensionäre des Turmes beschlossen, auch dorthin zu gelangen. Die Lumpen und das Stroh von Koppirnigs Lager wurden auseinander genommen und verteilt, auf dass man sich anstecke. Tatsächlich waren der Institor und Bonaventura kurz darauf mit Schwären und Pusteln bedeckt. Sie gelangten aber nicht zur der Größe von Koppirnigs Furunkeln,und die Brüder vom Heiligen Grabe sahen sie weder als operationswürdig noch der Hospitalspflege bedürftig an.
    Scharley hingegen gelang es, mit Essensresten eine große Ratte anzulocken und zu zähmen, die er Martin nannte, zu Ehren des Papstes, wie er sagte. Einige Pensionäre des Narrenturmes amüsierten sich darüber, andere entrüsteten sich. Über Scharley wie auch über Horn, der die Taufe der Ratte mit dem Ausspruch kommentierte:
Habemus papam.
Dieses Ereignis gab aber den Anstoß zu weiteren Themen der abendlichen Gespräche   – in der Hinsicht hatte sich nicht viel verändert. Jeden Abend saß man zusammen und diskutierte. Meist in der Nähe von Reynevans Lager, der immer noch zu schwach war, um aufzustehen und der mit einer von den Brüdern des Heiligen Grabes gesandten Hühnerbrühe gefüttert wurde. Dann fütterte Urban Horn Reynevan, und Scharley fütterte die Ratte Martin, Bonaventura kratzte seine Schwären, Koppirnig, der Institor, der Kamaldulenser und Jesaja hörten zu. Thomas Alpha predigte. Inspiriert durch die Ratte, waren die Päpste, das Papsttum und die berühmte Weissagung des heiligen Malachias, des Erzbischofs von Armagh, der Gegenstand seiner Predigt.
    »Ihr müsst zugeben«, erklärte Thomas Alpha, »wie zutreffend diese Prophezeiung ist, sie ist so zutreffend, dass von Zufall nicht die Rede sein kann. Malachias muss eine Erscheinung gehabt haben, Gott selbst muss zu ihm gesprochen und ihm das Schicksal der Christenheit verraten haben, darunter die Namen der Päpste, von Coelestin II. bis zu jenem Peter in Rom, dessen Pontifikat mit der Zerstörung Roms, des

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