Narrenturm - Roman
Bruder Deodatus wie ein Klotz daliegt, kaum atmet und nicht einen Finger bewegt, während fast alle der von Euch zitierten Bücher sagen, dass der Besessene für gewöhnlich seine Gliedmaßen überaus heftig bewegt und dass der Teufel ständig aus ihm redet und schreit. Liegt darin nicht ein Widerspruch begründet?«
»Jede Krankheit«, Scharley blickte von oben herab auf den Mönch, »darunter auch die Besessenheit, ist ein Werk Satans, des Zerstörers der göttlichen Werke. Jede Krankheit wird von einem der vier schwarzen Engel des Bösen hervorgerufen, die da sind: Mahazel, Azazel, Asrael und Samael. Dass der Besessene sich nicht windet, nicht schreit, sondern wie leblos daliegt, beweist, dass ihn einer der Dämonen beherrscht, die Samael unterstehen.«
»Gott steh uns bei!« Der Abt bekreuzigte sich.
»Aber«, setzte Scharley hinzu, »ich weiß ein Mittel gegen solche Dämonen. Sie fliegen durch die Luft und fahren still und heimlich in den Menschen hinein, mit der Atemluft, also
insufflatio.
Ich befehle ihnen, auf demselben Wege, also durch
exsufflatio
, den Kranken zu verlassen.«
»Aber wie kann das sein?« Der junge Mönch gab nicht auf. »Der Teufel im Kloster, wo die Glocken läuten, Messe, Brevier und lauter Heiligkeiten sind? Er fährt in einen Mönch? Wie kann das gehen?«
Scharley revanchierte sich mit einem vernichtenden Blick.
»Wie uns der heilige Gregor der Große, ein Gelehrter der Kirche, berichtet«, sagte er streng und eindringlich, »hat einst eine Nonne den Teufel mit einem Salatblatt aus dem Beet desKlostergartens verschluckt. Denn sie hat die Pflicht des Gebets und des Schlagens des Kreuzes vor dem Verzehr missachtet. Hat sich Bruder Deodatus vielleicht eines ähnlichen Vergehens schuldig gemacht?«
Die Benediktiner senkten die Köpfe, der Abt räusperte sich.
»Das ist wohl wahr«, stammelte er dann. »Bruder Deodatus war oft allzu weltlich, allzu weltlich und wenig pflichtbewusst.«
»Wie leicht kann ihm daher das Gleiche geschehen sein«, versetzte Scharley trocken, »wie leicht ist er auf diese Weise zur Beute des Bösen geworden. Führt uns in die Kapelle, Hochwürden.«
»Was braucht Ihr, Meister? Weihwasser? Das Kreuz? Heiligenbilder? Das Benediktional?«
»Nur Weihwasser und die Bibel.«
Die Kapelle verströmte Kälte und versank im Halbdunkel, lediglich erhellt von den glimmenden Aureolen der Kerzen und einem schräg fallenden Strahl bunten Lichtes, das durch die Vitragen hereindrang. In diesem Licht ruhte auf einem mit Linnen bedeckten Katafalk Bruder Deodatus. Er sah noch genauso aus wie vor einer Stunde im klösterlichen Krankensaal, als Reynevan und Scharley ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatten. Er hatte ein starres, wächsernes Antlitz, gelb wie ein ausgekochter Markknochen, eingefallene Wangen und Lippen und geschlossene Augen; sein Atem ging so flach, dass er kaum zu spüren war. Man hatte ihn so gebettet, dass sich die mit Wunden vom Aderlass bedeckten Arme über der Brust kreuzten und ihm einen Rosenkranz und eine violette Stola um die starren Hände geflochten.
Einige Schritte vom Katafalk entfernt saß, den Rücken gegen die Mauer gestützt, ein riesiger, kahl geschorener Mann auf den Fliesen, die Augen geschlossen und das Gesicht mit dem Ausdruck eines nicht gerade aufgeweckten Kindes. Der Riese hatte zwei Finger seiner rechten Hand in den Mund gesteckt, mit der linken hingegen hielt er einen Tontopf gegen seinenBauch gedrückt. Dieses Kraftpaket schniefte alle paar Minuten grässlich, riss den schmutzigen, klebrigen Topf von seiner ebenso schmutzigen, klebrigen Tunika herunter, wischte die Finger an seinem Bauch ab, zwängte sie in den Topf, holte Honig daraus hervor und schob ihn in den Mund. Worauf das Ritual sich wiederholte.
»Er ist eine Waise, ein Findelkind.« Der Abt kam einer Frage zuvor, als er Scharleys angewiderte Miene sah. »Wir haben ihn Samson getauft, wie es seiner Körpergröße und seiner Kraft entspricht. Er ist unser Klosterdiener, ein bisschen einfältig . . . Aber Bruder Deodatus liebt er sehr, er folgt ihm wie ein Hündchen überallhin . . . weicht ihm keinen Schritt von der Seite . . . Da dachten wir . . .«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn Scharley. »Er kann dort sitzen bleiben, wo er ist, wenn er sich nur still verhält. Wir beginnen. Magister Reinmar . . .«
Reynevan tat es Scharley nach, hängte sich die Stola um den Hals, legte die Hände aneinander und senkte den Kopf. Er wusste nicht, ob Scharley nur
Weitere Kostenlose Bücher