Narzissen und Chilipralinen - Roman
Augenblick gleich wieder vorüber sein. So, wie ich mich kenne, geschieht das zwangsläufig. Aber gerade jetzt kann ich glauben. Es fühlt sich an, als würde ich schweben. Habe ich je angenommen, dass der Glaube einen fest am Boden verankert? Ich habe eher das Gefühl, dass ich mich vom Grund löse und fliege, haarscharf über der Wirklichkeit, als hätte mein Herz plötzlich Flügel bekommen. Auf einmal kann ich mit dem Herzen sehen und den Duft der Welt um mich herum einatmen und alles ist farbiger und scheint näher an mich heranzurücken.
»Er kann sie heilen, wenn er will«, wiederhole ich.
»Warum sollte er nicht wollen?«, fragt Daniel zurück, zwischen seinen Augen wohnt ein bitterer Schmerz, viel bitterer, als irgendjemand fühlen sollte, den ich liebe. »Was hält ihn davon ab, es zu tun? Sie ist zwanzig Jahre alt. Sie hat immer an ihn geglaubt. Warum tut Gott das? Warum geschieht das?«
Ich habe keine Antwort. Mein kleiner, schwebender Glaube setzt mich wieder auf der harten Erde ab. Es gibt nichts, absolut nichts, was ich sagen könnte.
Ich habe keine Ahnung, warum Sarah diesen Unfall hatte. Warum sie im Koma liegt und nicht aufwacht. Warum das ausgerechnet ihrer Familie passiert und nicht meiner oder der von jemand anders, den wir nicht kennen. Ich könnte höchstens einwenden, dass ich nicht glaube, dass Gott so etwas tut. Es passiert. Er hat es nicht verhindert, aber das ist irgendwie nicht dasselbe, als wenn er es selbst verursacht hätte, oder?
Ach, Daniel, würde ich am liebsten sagen, glaubst du, wir zwei werden das Rätsel lösen, warum es Leid auf dieser Welt gibt? Wohl kaum.
Ich lege meine Arme um ihn. Vorsichtig, denn ich habe Angst, er könnte sich an die Sache mit Tom erinnern und mich wegstoßen. Aber er lässt es zu. Er drückt mich an sich, so fest, dass ich kaum atmen kann. Er gräbt sein Gesicht in mein Haar. Mir ist egal, ob jemand uns sieht. Ich stehe bloß da und halte ihn und dabei bete ich.
Oh Gott, hilf uns, hilf ihm, hilf Sarah ...
Es ist, als wäre ein Staudamm gebrochen. Ich bete und kann nicht mehr aufhören. Alle meine Sorgen strömen aus mir heraus. Ich sage Gott alles, was mir in den Sinn kommt, während ich Daniel im Arm halte.
Ein Wunder. Oh bitte, bitte, schenke mir ein fettes Wunder.
»Es gibt Essen! Kommt endlich rein!«
Das kann nur Tabita sein. Sie hat die Haustür aufgerissen und schreit so laut, dass man es bestimmt noch zwei Straßen weiter hört. Einen kurzen Moment lang bin ich zu heilig, um mich zu ärgern, dann schreie ich zurück: »He, geht es noch lauter? Wir sind nicht taub. Noch nicht.«
Tabita grinst. Sie streicht sich die Locken hinter die Ohren. Zu meinem Verdruss hat sie nämlich welche, während ich völlig glatte Haare habe, die sich auch von keinem Lockenstab oder von Wicklern wellen lassen. Nach fünf Minuten hängt wieder alles schlaff herunter.
Ich nehme Daniels Hand und führe ihn ins Haus. Wie einen Schwerkranken. Meine Eltern sind besonders freundlich zu ihm. Meine Mutter erkundigt sich so vorsichtig nach Sarah, als könnte ein falsches Wort dazu führen, dass er in Ohnmacht fällt oder einen Heulanfall bekommt. Vielleicht hat sie ja bloß Angst, dass sie selbst in Tränen ausbricht. Papa nickt weise und setzt sein betroffenes Seelsorgegesicht auf. Ich wusste vorher nicht, dass jemand, der eine Schwester hat, die im Koma liegt, wie etwas Zerbrechliches behandelt wird. Jetzt verstehe ich auch, warum Tom das mit seinem Vater geheim hält. Er will nicht danach gefragt werden und das Mitleid in den Augen der anderen sehen. Tom will auf keinen Fall schwach sein.
Nur die Kinder merken nichts davon, dass die Erwachsenen Beerdigungsstimmung verbreiten.
»Ich hab ein neues Poster, das musst du dir ansehen.« Silas hat zum Geburtstag verschiedene Star-Wars-Artikel bekommen und damit seine Sammlung vergrößert. »Und meine Bettwäsche! Die ist so toll, mit Darth Vader und Yoda. Ich schlafe auf der Yoda-Seite.«
»Ja«, sagt Tabita, »weil du auf die Darth-Vader-Seite gespuckt hast. Er sabbert nämlich immer im Schlaf.«
»Gar nicht!«, ruft Silas entrüstet.
»Ich glaube, Daniel will sich sowieso lieber Miriams Bettwäsche angucken«, meint Tabita.
»Tabita!«, sagt meine Mutter scharf.
Sicherheitshalber beuge ich mich über meinen Kartoffelbrei und grabe einen neuen Soßenkanal.
»Bestimmt verschwinden sie gleich wieder in Miriams Zimmer. So wie neulich.«
Ich bring dich um. Das sage ich natürlich nicht, aber ich hoffe, sie kann
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