Naschmarkt
versteinerter Miene anstarrt. Hat er etwa mitbekommen, dass ich ihn belauscht habe? Hat er mich gesehen? Beim Gedanken daran läuft es mir kalt den Rücken runter.
»Nicht ins Publikum blicken«, raunt Reifenstein mir zu, ehe er sich an seinen Kanzler wendet. »Zum Vorspiel, wie schön, Untertanin Wilcek. Ich hatte noch nicht viele junge Damen, die sich freiwillig zum öffentlichen Vorspiel gemeldet haben.«
Die Menge lacht brav auf Anzeige. Die Normalität scheint wiederhergestellt. Reifensteins Sendung
Die Audienz
läuft seit über einem Jahr mit riesigem Erfolg im Donnerstagnachtprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Die Mischung aus Kabarett, Kostümfest, Selbstdarstellung und Talkshow mit brandaktuellen Themen hat den Nerv des österreichischen Fernsehpublikums getroffen. Reifenstein selbst, im ikonischen Outfit eines Märchenkönigs, ist als
König Roman der Erste
Zugpferd und gewitzter Moderator in einem. In
Dancing Stars
hat er als Teil des ersten rein männlichen Tanzpaars Furore gemacht, musste sich im Finale aber Ramy geschlagen geben.
Der Kanzler,
eine Rolle, die von Reifensteins Langzeitpartner Fritz Ruben kongenial als braungebrannter Schleimer im Armani-Anzug gespielt wird, nimmt mir das Hühnchen und den goldenen Umschlag ab. Er übergibt beides einem knackigen Dienstboten in ärmelloser Livree, der es auf einem Silbertablett nach draußen trägt. Das Huhn hat seine Schuldigkeit getan. Wehmütig sehe ich meiner letzten Verbündeten nach.
»Backhenderl mit Erdäpfel-Vogerlsalat, meine Leibspeise«, verkündet Reifenstein, was ihm wieder einen Lacher bringt, zumindest von den Nichtvegetariern. »Untertanin Wilcek, Sie dürfen sich jetzt setzen.« Um den Thron herum, streng nach Zeremoniell, stehen mehrere goldene Stühle. Der König weist mir den Platz zu seiner Rechten zu.
»Das Thema der heutigen Audienz lautet: ›Generation Single. Allein geblieben oder freigemacht?‹ Als erste Bittstellerin begrüße ich Dorothy Wilcek, Journalistin beim
Österreichboten.
Untertanin Wilcek«, wendet sich Reifenstein an mich, »Sie haben das Land in den letzten Wochen ganz schön aufgemischt mit Ihrem – wie sagt man – Block?«
»Ein Blog«, mischt sich der Kanzler ein. »Die exakte Bezeichnung lautet
Weblog.
Das ist die Wortkreuzung aus World Wide Web und Log für Logbuch. Dabei handelt es sich um ein auf einer Website geführtes und damit – meist öffentlich – einsehbares Tagebuch oder Journal. Die Untertanen veröffentlichen dort ihre Gedanken.«
»Ihre Gedanken, soso. Haben wir eine Behörde, die darauf aufpasst, dass diese
Gedanken
monarchiefreundlich bleiben?«
»Selbstverständlich, Eure Majestät. Das Bundeskommunikationsamt überwacht längst das gesamte Internet.«
»Und wie kommt es dann, dass Untertanin Wilcek sich so uneingeschränkt Gedanken zum Thema Mauerblümchen machen darf?«
»Das kommt daher, weil Eure Majestät ja ebenfalls ein Mauerblümchen sind«, antwortet der Kanzler routiniert. Applaus und Bravos aus dem Publikum.
»Ja, richtig«, sagt Reifenstein, »womit wir schon beim Thema wären. Untertanin Wilcek, wie definieren Sie ein Mauerblümchen?«
Ich atme tief durch, um die Nervosität zurückzudrängen, und bemühe mich, nicht zu Froschmaul oder Ramy hinüberzuschielen.
»Mauerblümchen sind freiwillige Singles«, kommt es noch etwas trocken aus meiner Kehle. Ich räuspere mich. »Das heißt, sie entscheiden sich bewusst gegen eine Partnerschaft. Es kann sein, dass sie gar keine Bekanntschaften haben oder dass sie sich lediglich nicht binden …«
»Womit wir bei der Frage angekommen sind, die das gesamte Land interessiert: Haben Mauerblümchen Sex?«
Ich brauche nicht zu lesen, was die Anzeige über uns einblendet, denn ein allgemeines Pfeifen aus dem Publikum spricht für sich.
»Das kommt auf die Definition von Sex an«, antworte ich. »Die Frage ist, ob man Sex nur gemeinsam mit einem Partner haben kann, und wenn man Sex mit Partner hat, ob das zwangsläufig in einer Beziehung sein muss.«
Reifenstein sieht mich mehrere Sekunden lang an, dann wendet er sich an den Kanzler:
»Das ist eine interessante Theorie, die die Untertanin Wilcek da aufstellt. Ich schlage vor, wir befragen dazu gleich die zweite Bittstellerin.«
Der Kanzler, auf diese offensichtlich ungeplante Wendung nicht ausreichend vorbereitet, nickt, erhebt sich rasch und verkündet: »Bittstellerin Nummer zwei. Untertanin Beatrice Kleidermann.«
Erneut öffnet sich das Schlosstor mit
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