Nasenduscher: Roman (German Edition)
Augapfel wahrzunehmen. Leider kann ich aufgrund der Kältestarre weder meinen Arm heben noch jemanden anderen bitten, mit einem Eiskratzer den Frost von meiner Iris zu schaben. So verharre ich bewegungslos in meiner Position und warte auf die Schmelze. Es dauert vier Blocks, bis mein Organismus und ich uns wieder zu einem gemeinsamen Körper verbinden. Augenscheinlich mag man es etwas schattiger in den Vereinigten Staaten von Amerika. Auch die anderen europäischen Fahrgäste haben eine schweigende Ötzihaltung eingenommen. Höchst besorgt kontrolliere ich Romeos Atmung, indem ich ihm die Hand auf den Bauch lege. Er lebt, und zum ersten Mal beneide ich ihn um sein Fell. Für einen kurzen Moment schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Wenn ich nicht so überaus feinfühlig auf sein Haarkleid reagieren würde, wäre er eine echte Schal-Alternative.
Nach und nach nähern wir uns dem Hafenbecken von Miami. Vorbei am bunten Treiben von Southbeach, an dessen Strandpromenade alles noch viel unwirklicher aussieht als im Katalog, und vorbei am Meer. Ja, Meer. Mein Meer. Meine biologische Lungenmaschine. Sobald ich an Bord bin, werde ich einige Runden an Deck drehen. Mir die Atemwege vollsaugen, bis ich vor lauter pollenfreiem Sauerstoff besoffen bin.
Nach dreißigminütiger Fahrt passieren wir letztlich das Tor des Hafens und halten direkt vor einer weißen Wand. Als ich hinter der schnaubenden Lady aus dem Bus steige, erkenne ich, dass die weiße Wand gar keine Wand ist.
Es ist das Schiff.
Es ist riesig.
Vielleicht sogar etwas zu mächtig für mich. Transportmittel, deren Ende ich nicht ausmachen kann, wenn ich davorstehe, machen mir irgendwie Angst. Und das geht schon bei den gestretchten Nahverkehrslinienbussen der VGF zwischen Konstablerwache und Hauptfriedhof los.
Ich muss mich zusammenreißen, nicht ständig zu gaffen, da ich es ja eigentlich gar nicht sehe. Bin ja blind. Dennoch werde ich trotz aller physikalisch erklärbaren Gesetze nie verstehen, warum so viele Tonnen Stahl nicht doch einfach wie ein Stein absaufen. Alle Versprechungen und Beteuerungen à la: Da kann nichts passieren, können mich hier nur wenig besänftigen. Schließlich gab es da doch schon einmal so ein Schiff, das niemals sinken würde und anschließend Kate Winslet beinahe zum Verhängnis wurde. Und eine Trillerpfeife habe ich auch nicht dabei. Mist. Vorsichtshalber prüfe ich daher, wie viel Rettungsboote von Land aus erkennbar sind. Es sind einige. Na dann …
25
Amerikanische Handwerkskunst
I ch stinke nach einer Mischung aus Kerosin, Flugangstschweiß und Kamillentee. Alles, was ich will, ist eine Dusche und frische Klamotten. Nach der Passkontrolle im Hafengebäude und dem problemlosen Einchecken irre ich nun durch den Bauch des Schiffs. Das ist als gesunder Mensch schon kaum zu schaffen, als Teilzeitblinder mit abgedunkelter Sonnenbrille und einem Kater im Schlepptau geradezu unmöglich. Doch auch hier naht Rettung. Einer der ständig gut gelaunten Mitarbeiter erbarmt sich meiner und hakt sich sofort bei mir ein, um mich einige Meter weiter in einen Rollstuhl zu drücken. So eine Blindheit schafft auch ungewollte Nähe. Ich werde durch die engen Gänge bis zu meiner Innenkabine geschoben. Und hier erwarte ich auch kein Upgrade. Wäre für einen Blinden wohl auch ziemlich bescheuert: eine Außenkabine mit herrlichem Panoramablick.
Schließlich findet mein Anschieber das in grellem Pink gehaltene Continentaldeck. Wenn ich nicht schon blind wäre, hier würde ich es spätestens werden.
Meine Kabine ist dankenswerterweise nicht ganz so farbenfroh gehalten. Ich steige aus dem Rollstuhl und verabschiede den Kabinensteward mit einem Trinkgeld. Wie er mir mitteilt, soll auch mein restliches Gepäck umgehend bei mir landen. Das hoffe ich sehr. Für mich und alle weiteren Passagiere. Denn meine Ausdünstungen haben die olfaktorische Bandbreite eines Pumakäfigs angenommen.
Ich lasse Romeo von der Leine und nehme zum ersten Mal seit heute Morgen meine Sonnenbrille ab. Das Licht brennt wie Feuer in den Augen, und nur langsam kann ich alles erkennen. Die Kabine ist funktional und erstaunlich geschmackvoll eingerichtet. Das konnte man ob der Farbauswahl der von mir gerade erkundeten Regenbogenfarbendecks nicht vermuten. Ein mittelfloriger Teppich dient als Auslegeware im kompletten Kabinenbereich. Außer in der Nasszelle. Selten zuvor war ein Begriff treffender als hier: Nasszelle!
Ein weißer Raum, der allem Anschein nach aus einer
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