Nasenduscher: Roman (German Edition)
Grauens. Gunther von Hagens Körperwelten auf Wasser.
Ich taxiere das Durchschnittsalter auf weit über hundertsiebzig Jahre. Eine alte Dame mit lila gefärbtem Haar schätze ich sogar so alt ein, dass sie schon mit der echten Titanic unterwegs gewesen sein könnte. Sie hat sogar eine frappierende Ähnlichkeit mit der alten Frau aus der Hollywoodverfilmung. Die mit dem unglaublich faltigen Gesicht, die barfuß nächtens über das Schiff schleicht, um den sauteuren Klunker über Bord zu schmeißen. »Herz des Ozeans«, genau, so hieß der Edelstein. Ich werde zur späten Stunde mal ein Auge offen halten, ob sie nicht vielleicht in einem Demenzanfall Richtung Backbord schlendert, um einen Diamanten loszuwerden.
»Are you okay?«, fragt mich Franky und deutet auf die Lila-Pause-Kuh. »Sorry, but the lady over there needs help.«
»I’m okay, Franky. Thank you.«
Die Notfallübung wird kurz darauf für beendet erklärt, woraufhin einige Gäste applaudieren und sichtlich beruhigt ausatmen. Ich befürchte, dass ein Großteil der Passagiere nicht verstanden hat, dass dies nur eine Übung war und wir uns nicht in akuter Lebensgefahr befanden. Wie auch? Wir liegen ja noch fest vertäut im Hafen von Miami.
Romeo und ich bewegen uns wieder zurück in unsere Kabine, wo inzwischen tatsächlich mein Gepäck angekommen ist. Beruhigt sinke ich aufs Bett. Ein kurzes Nickerchen und eine Dusche. Und dann ab zum Abendessen.
27
Völkerverständigung
E s hat auch Vorteile, unter Greisen zu reisen. Auf dem Weg zum Hauptrestaurant überhole ich trotz meiner angeblichen Blindheit gut zwei Drittel der vor mir schlurfenden Masse ohne große Probleme. Den Rest überrunde ich im Treppenaufgang, da ein weißhaariger Mann mit Gehstock die Innenbahn für alle Nachfolgenden blockiert. Ich nutze die Gunst der Stunde und die Tatsache, dass ich auch ohne Handlauf mein Gleichgewicht halten kann, und schieße aus dem Windschatten heraus vorbei an der schleichenden Wallfahrt. In meinem schwarzen Anzug und dem Kater an meiner Hand wirke ich wie James Bonds kongenialer Gegenspieler Dr. No. Mir gefällt das irgendwie. Ich beschließe, diese Aura weiter zu pflegen. Die Faszination des bösen und geheimnisvollen Weltbedrohers. Im Restaurant selbst müssen Romeo und ich trotz aller Weltübernahmeansprüche dennoch erst mal in einer langen Schlange warten, da man an seinen fest reservierten Platz geführt wird. Auch wenn man nicht blind ist.
Als sich die Schlange um die nächste Ecke in den Raum schiebt, schaue ich in die wässrigen Augen eines traurigen Vogels. Es handelt sich dabei um die monströse Eisskulptur eines Schwans, der im Empfangsbereich positioniert wurde, um den Gästen schon beim Eintreten zu signalisieren, dass man hier die ganz dicken Bretter bohrt. Der Eisschwan ist mindestens anderthalb Meter groß, und unter ihm ragen zwei dicke Beulen hervor, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob der Künstler Füße oder Hoden darstellen wollte. Jedoch hat man für die Mitreisenden die Klimaanlage auf akzeptable zwanzig Grad Raumtemperatur eingestellt. Und so fließen dem Eisschwan nun die ersten Tränen über den langen Hals Richtung Boden, wo zwei Handtücher das Schmelzwasser des Vogels auffangen. Ich tipple weiter, bis ich von einem Mann in Smoking abgefangen und nach meinem Namen gefragt werde.
»Your name, Sir?«
Ich höre sogar die James-Bond-Titelmelodie in meinem Innenohr, als ich meinen Namen sage.
»My name is Süßemilch. Robert Süßemilch. Hatschi! «
Shit! Bond musste nie niesen.
»Bless you, Sir.«
»Thank you.«
Romeo und ich werden sogleich zu unserem Tisch in der Mitte des Saals geleitet. Einer der Kellner rückt meinen Stuhl zurecht, und ich nehme Platz. Dabei nicke ich freundlich in die Runde und nenne wohlerzogen Namen und Herkunftsland.
»Hello. My name is Robert Süßemilch. From Germany.«
Der Kerl neben mir stellt sich als Dave aus Kalifornien vor und trägt einen blauen Anzug, der sehr an die frühen Siebzigerjahre erinnert. Die anderen Herrschaften scheinen sich zu kennen und sprechen Russisch. Eine Frau um die sechzig, die viel zu viel Schminke und Schmuck aufgelegt hat, und ihr braun gebrannter Ehemann, der als Schmuck lediglich eine goldene Kette trägt, die ab und an durch seinen weißen Brusthaarflokati schimmert. Der ungefähr vierzigjährige und unverkennbare Sohn der beiden sitzt neben ihnen und wirkt wie die perfekte Parodie eines Russen. Mit zielsicherem Griff hat er es geschafft, sich das
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