Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Grund fragte sie sich, ob sie ihre Töchter wirklich geliebt hatte. Ja, sie hatte sie geliebt, auch wenn diese Liebe kühl und distanziert war. Sie hatte sie nicht selbst großgezogen, denn von Anfang an waren die beiden Mädchen der Fürsorge von Ammen und Dienerschaft anvertraut worden, sodass sich ihr Verhältnis auf gelegentliche formelle Begegnungen beschränkt hatte. Und jetzt hatte sie beide verloren: Lebitha, die Erstgeborene, die noch so jung im Kloster verstorben war, und Talitha, die Rebellin, die alles bekämpfte, was ihr Leben ausmachte. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie sich mehr um sie gekümmert, wenn sie mehr Zeit mit ihnen verbracht hätte. Aber dieser Gedanke war müßig. So verläuft nun mal das Leben für Frauen wie mich, sagte sie sich.
Dennoch belastete ein gewisses Unbehagen ihr Herz, seit sie an diesem Morgen aufgewacht war. Sie hatte die Augen aufgeschlagen und begriffen, dass dies der »große Tag« war, der Tag, an dem all die Machenschaften und Intrigen, die ihr Gatte angezettelt hatte, ihre Erfüllung fanden. Dennoch hatte sie keinerlei Genugtuung empfunden, sondern lediglich eine gewisse Lustlosigkeit angesichts dessen, was an diesem Tag wieder von ihr erwartet wurde: lächeln, grüßen, liebenswürdig sein. Petra, die neue Königin des Reichs des Sommers.
Prüfend betrachtete die Sklavin die Frisur, die sie gerade fertiggestellt hatte. »Ihr seht wunderschön aus, Majestät«, sagte sie und verneigte sich.
»Noch bin ich nicht Königin«, murmelte Petra. Beiläufig fragte sie sich, ob die alte Frau wusste, dass sie gerade der Gattin des Mannes die Haare frisiert hatte, der ihre frühere Herrin hatte umbringen lassen. Langsam erhob sie sich und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Schönheit war immer ihre einzige Waffe gewesen, eine Gabe, die sie aus der Schar der kleinen Adligen und Hofdamen, von denen es in Talaria wimmelte, heraushob. Nun jedoch entdeckte sie, obwohl sie so sorgfältig geschminkt und perfekt frisiert war, die Spuren des Alters an sich. Einige Falten mehr am Hals, müde Gesichtszüge, die nicht mehr strahlende Haut. Zum Glück waren aber die Spuren der »Diskussion« mit ihrem Mann, zu der es noch am Vorabend gekommen war, überdeckt worden. Allerdings hatte er auch peinlich genau darauf geachtet, ihr Gesicht unbeschadet zu lassen. Die mangelnde Begeisterung hatte ihm missfallen, mit der sie dem »großen Tag« entgegensah, sowie ihr Zögern, Königin zu werden, eine Würde, die sie nie angestrebt hatte. So wie alles andere eigentlich auch nicht. Doch Frauen wie sie konnten sich den Luxus, das Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten, nicht erlauben, und genau daran hatte Megassa sie mit fester Hand erinnert.
»Warum zwingst du mich dazu!?«, hatte er sie angebrüllt, während sie schon vor seinen Füßen zusammengekrümmt am Boden ihres Schlafgemachs lag. »Warum willst du nicht verstehen, was gut für dich ist? Ich leide doch auch, wenn ich dich so bestrafen muss.« In den ersten Jahren hatte Petra ihm sogar geglaubt und sich selbst die Schuld daran gegeben, wenn er sie schlug. Mittlerweile aber wusste sie, dass auch der schmerzerfüllte Unterton in seiner Stimme, so wie alles andere, eine Lüge war. »Aber ich werde dich weiter bestrafen, bis du endlich verstanden hast, was die Pflicht von dir verlangt«, hatte er gebrüllt und sie am Hals gepackt, »und das ist, für mich diesen Thron zu besteigen, weil es mir die Gesetze dieses Landes nicht erlauben, es selbst zu tun. Hast du das endlich verstanden!?«
»Ja«, hatte sie gemurmelt.
»Und du wirst nie wieder meine Entscheidungen anzweifeln und mir ungebührliche Fragen stellen?«
»Nein, das werde ich nicht.«
Megassa hatte sie zornig angestarrt, ihr dann die Hand gereicht und sie auf das Bett gezogen, so als wenn nichts vorgefallen wäre.
Petra durchschritt den langen Gang, an dessen Ende die Kutsche auf sie wartete, die sie zu dem Kloster bringen würde, in dem Grele Kleine Mutter war. Diese Grele war so häufig mit ihrem Mann zusammen, und er hielt so große Stücke auf sie, dass Petra sich manches Mal gefragt hatte, ob sie nicht seine Geliebte war. Aber im Grunde glaubte sie nicht daran. So ein Mann war Megassa nicht, das Einzige, was ihn interessierte, war die Macht.
So trat sie in die Sonne dieses schwülen Tages hinaus. Der ganze Palast hatte sich versammelt, um sie zu begrüßen. Sklaven und Aufseher fielen gleichzeitig auf die Knie, und was Petra sah, war eine Masse aus geneigten
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