Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
waren ebenfalls dabei: Wir haben dem Massaker an Unschuldigen beigewohnt, wir waren dort, als sie die Überlebenden in eine Lagerhalle sperrten und sie anzündeten. Das ist es, was sie tun, weil sie uns für weniger als nichts halten. Aber wir sind anders. Oder irre ich mich?«
Die Schar der Versammelten verharrte in eisigem Schweigen, und vergeblich suchte Talitha irgendwo ein Zeichen der Zustimmung.
»Was ist mit euch los? Wir wollten doch eine neue Welt aufbauen. Eine gerechtere Welt, in der niemand mehr Herr und niemand mehr Sklave ist, eine Welt, in der niemand mehr solch ein Leid wie wir ertragen muss.«
»Ich wüsste nicht, dass du irgendetwas vom Leid der Femtiten ertragen musstest«, erwiderte der Alte.
»Da hast du recht. Aber ich habe mit euch und für euch gekämpft! Und ihr könnt euer Leid nicht ungeschehen machen, indem ihr neues Leid schafft und unschuldige Gefangene tötet!«
»Unschuldig? Wieso unschuldig«, mischte sich ein junger Krieger ein und sprang auf. »Meine Mutter musste sterben, weil ihrer Herrin danach war, aus reiner Eifersucht, weil es ihr nicht passte, wie ihr Mann sie ansah! Und das nennst du unschuldig?«
Fast alle nickten überzeugt. Jeder von ihnen hätte mit einer ähnlichen Geschichte aufwarten können, die er selbst erlebt und von Leidensgenossen erzählt bekommen hatte.
»Schon, aber das war eure Herrin. Du weißt aber nicht, wie sich die Leute, die ihr zum Tode verurteilen wollt, verhalten haben.«
»Die Talariten sind alle gleich, hinterhältig und böse, vom ersten bis zum letzten, und sie müssen alle sterben, bis kein einziger mehr übrig ist.«
Jemand applaudierte, hier und da erhoben sich zustimmende Rufe aus der Menge.
»Du vergisst, dass ich ebenfalls eine Talaritin bin, und Melkise auch. Und doch kämpfen wir auf eurer Seite.«
»Was heißt das schon?«, mischte sich Gerner ein. »Du glaubst doch nicht, dass diese Talariten sich uns anschließen werden. Über viele Jahre haben sie uns leiden lassen und zu Tode geschunden. Und hat auch nur einer von ihnen einen Finger für uns gerührt? Das ist ihre Schuld. Warum willst du das nicht verstehen? Ein Herr lässt dich den Strafstock spüren, aber Hunderte stehen darum herum und schauen begeistert oder zumindest gleichgültig zu.«
»Und was ist mit den Kindern? Manche haben ihre Eltern verloren. Sie tragen sicher keine Schuld.«
»Was schlägst du denn vor? Sollen wir vielleicht alle Gefangenen freilassen? Man kann sich doch denken, was sie dann tun werden. Sie werden in die nächste Stadt fliehen und dort erzählen, was sie hier erleiden mussten. Dann stacheln sie die Gardisten an und führen sie hierher, damit sie uns alle niedermetzeln.«
»Oder sie würden verstehen und erzählen, dass wir nicht alle Talariten gleichsetzen. Sie würden unseren Großmut preisen, wodurch manchem vielleicht klar würde, dass unser Kampf gerecht ist.«
Einige Femtiten lachten.
Gekränkt schaute Talitha sich um. »Was lacht ihr? Ist es so dumm zu glauben, dass man leichter gewinnt, wenn man möglichst viele Feinde auf seine Seite zieht?«
Das Gelächter wurde stärker.
»Du bist noch jung und unerfahren, Talitha«, sagte Gerner schließlich, mit einem nachsichtigen Lächeln. »Kein Talarit wird je auf die Idee kommen, seine Einstellung zu ändern. Denn sie alle lieben es, bedient und hofiert zu werden. Sie lieben es, Befehle zu erteilen.«
»Aber wir sind anders«, warf Talitha ein.
»Das schon. Aber die Talariten sind so, und mit denen kann man nicht reden. Wir sind nicht daran interessiert, sie für unsere Sache zu gewinnen. Uns interessiert nur unsere Freiheit. Und wenn wir sie nur erringen können, wenn wir über Leichen gehen, auch die von Frauen und Kindern, bin ich dazu bereit. Und meine Männer sind es auch. Erst wenn alle unsere Brüder befreit sind, können wir über Frieden und Großmut reden. Vorher nicht, vorher können wir uns das nicht erlauben.«
Talitha schaute in die Gesichter der Rebellen und erkannte, dass Gerner Recht hatte: Diese Männer waren dazu bereit, kaltblütig dutzende unbewaffnete Talariten mit ihren Schwertern zu erschlagen. »Aber seht ihr denn nicht, dass wir damit genauso werden wie sie?!«, rief sie verzweifelt.
Gerner beendete die Debatte. »Gut, du hast deine Meinung geäußert. Schauen wir also, was die anderen für richtig halten. Wir stimmen ab.« Er wandte sich an die Versammlung: »Was entscheidet ihr: Sollen die Gefangenen frei gelassen oder getötet werden?«
Es wurde per
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