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Nashira

Nashira

Titel: Nashira Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Troisi
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schätzte sie,
dass ihr schlanker Körper hindurchpassen würde, und war froh, dass sie in letzter Zeit noch abgenommen hatte.
    »Ich steige dort ein, warte vorne auf mich«, sagte sie zu Saiph.
    »Nein, ich gehe«, erwiderte der.
    »Das Fensterchen ist zu schmal für dich. Außerdem möchte ich dir größere Gewissensbisse ersparen«, setzte sie spöttelnd hinzu. »Du wartest und passt auf. Wenn jemand kommt, pfeifst du zweimal kurz.«
    Dann trat sie, ohne dass er noch etwas hätte erwidern können, zu dem Fensterchen an der Rückseite. Es lag einige Handbreit über ihrem Kopf und stand einen Spalt offen, wahrscheinlich um die Luft zirkulieren zu lassen: Umso besser, dann brauchte sie nicht die Scheibe einzuschlagen.
    Sie stellte sich auf Zehenspitzen, zog den Dolch aus dem Stiefel und steckte die Klingenspitze in die Öffnung. Es dauerte etwas, bis es ihr gelang, den Haken zu lösen, mit dem die beiden Flügel verschlossen waren. Dann hielt sie sich am Fensterbrett fest und stemmte sich hinauf: Problemlos ging ihr Kopf hindurch, auch die Schultern streiften nur ganz leicht den Rahmen, und trotz einiger Kratzer passte sie auch mit den Hüften hindurch. Sie rutschte nach vorn, konnte aber den Sturz mit den Händen abfedern und tat sich nicht weh.
    Als sie sich umblickte, fand sie sich in einem kleinen Raum wieder, der vom Schein der beiden Monde erhellt wurde. An den Wänden standen Regale, in denen sich vor allem Pergamentrollen stapelten, doch auch einige schwere Bücher waren darunter. Auf einem Schreibtisch in der Mitte lag aufgeschlagen ein dickes Werk. Talitha trat heran und warf einen Blick hinein. Die Seiten waren mit einer winzigen Schrift bis
an die Ränder vollgeschrieben. Es schien sich um eine Art Katalog der Seen und Flüsse Talarias zu handeln. In der Mitte des Tisches lag ausgerollt eine Pergamentseite, offenbar frisch geglättet, denn auf dem Boden lagen noch die Reste dessen, was jemand von dem Blatt abgeschabt hatte. Zu sehen war eine herrliche, detailreiche Zeichnung eines Ortes, den Talitha nicht kannte. Die Namen der wichtigsten Städte im Reich des Sommers kannte sie eigentlich, und auch die der Flüsse und Seen, aber der auf dieser Karte dargestellte Ort schien unbewohnt zu sein. Stattdessen war er mit einer dichten Vegetation bewachsen, die der Künstler fast Baum für Baum mit größter Geduld nachgezeichnet hatte. Voller Bewunderung stand das Mädchen davor. Saiph hatte ihr erklärt, dass Lanti der beste Kartograf ganz Talarias war und dass nur bei ihm sehr spezielle Karten von ungewöhnlichen Orten, wie etwa der Luftkristallminen im Süden, zu finden waren. Zum ersten Mal sah Talitha eine Arbeit dieses Künstlers und war fasziniert: Noch die winzigste Einzelheit war mit außerordentlicher Sorgfalt gezeichnet, und einige Symbole waren so fein und filigran ausgearbeitet, dass man kaum glauben konnte, eine Hand könne zu solch einer Exaktheit fähig sein. Das Mädchen erkannte die Grenze des Reichs des Sommers wieder, wodurch sie schloss, dass diese Karte den Verbotenen Wald darstellen musste. Seltsam, wer mochte eine solche Karte in Auftrag gegeben haben? Niemand, der nicht durch besondere Umstände dazu gezwungen war, begab sich freiwillig dorthin. Höchstens hungernde Bauern, die Beeren und Früchte sammelten, wagten sich in diesen Wald, oder Jäger, weil es dort das erlesenste Wild zu erlegen gab. Aber darüber hinaus mied jeder, dem seine Gesundheit lieb war, diesen unheimlichen Ort. Offenbar war Lanti aber dort
gewesen, anders war diese außerordentliche Exaktheit der Darstellung nicht zu erklären.
    Talitha riss sich aus ihren Gedanken. Sie war nicht in das Haus eingedrungen, um sich von einer schönen Karte ablenken zu lassen. Und so ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und verzagte, denn Hunderte von Karten waren dort aufbewahrt. Wie sollte sie da die richtige finden?
    Sie begann, die Regale zu durchstöbern, zog hastig Pergamente heraus und rollte sie nur so weit auf, dass sie erkennen konnte, was dargestellt war, um sie dann wieder an ihren Platz zu legen.
    Alles nur Denkbare fand sie: Karten der vier Reiche, Stadtpläne von Messe und den anderen Hauptstädten, aber auch von Städten, von denen sie noch nie gehört hatte. Andere Karten zeigten die Schächte und Stollen von Minen, die Geheimgänge von Verliesen und sogar den Verlauf der Abwasserkanäle unter der Zitadelle. Jede dieser Karten war ein wahres Kunstwerk. Doch so schön sie auch sein mochten, waren sie nicht das,

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