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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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standen.
    Ende der Woche war das Nachtestat Anatomie.
    Manchmal fuhr Svenja auf dem Weg zur Uni durch den Anlagenpark. Ihre Augen suchten die Schüler, und wenn sie sie fanden, hielt sie das Rad an und blieb stehen, irgendwo im Schatten. Sie konnte ihnen nichts anhaben, den Dreizehn- und Vierzehnjährigen dort mit ihren I-Phones und ihrem Geld und ihrer Gier danach, sich älter zu rauchen.
    »Aber wenn ich könnte«, flüsterte sie in die lauschende Luft zwischen den Kastanienblättern, »wenn ich könnte, würde ich etwas tun. Irgendetwas Schreckliches.« In diesen Tagen fand sie eine rote Wut in sich, die manchmal schmerzte und alles andere für Millisekunden ausblendete. »Wenn er wirklich auf der Straße leben würde, wäre das das Ende gewesen«, wisperte sie den Flaschen im Gebüsch zu, die niemand mehr aufsammelte. »Er wäre an irgendeiner Wundinfektion gestorben. Und der eine Finger ist garantiert gebrochen, man sieht es. Der rechte Ringfinger. Er wird schief zusammenwachsen. Und es ist kein Ding, das ihr kaputt gemacht habt, es ist ein Kind, ein Mensch. Begreift ihr das überhaupt? Wenn ich könnte, würde ich mit euch etwas Ähnliches tun. Es könnte sich gut anfühlen, zuzuschlagen.« Sie schloss die Wut in sich ein und nahm sie mit.
    »Gestern Nacht habe ich eine Sternschnuppe gesehen«, sagte Nashville einmal. »Sie war umgekehrt, wie alles. Sie fiel von unten nach oben. Sie war weg, bevor ich mir was wünschen konnte.«
    »Mist«, sagte Svenja und lachte. »Was hättest du dir gewünscht? Wenn du Zeit gehabt hättest?«
    Nashville sah sie an. Sah den Schrank an, in dem die Messersammlung schlief. Sah wieder Svenja an.
    »Über Wünsche redet man nicht«, sagte er und schwieg den Rest des Tages.
     
    Sie schlief nicht noch einmal mit Katleen. Katleen war oft da, aber mehr als da sein tat sie nicht, es ergab sich nicht so. Manchmal sah Svenja in ihrem Blick etwas Hungriges.
    Friedel versuchte Svenja ein paarmal in eine Ecke zu ziehen, um sie zu küssen, scheiterte aber und trank möglicherweise noch mehr als sonst. Sie hörte ihn nachts nach Hause kommen. Manchmal war er alleine weg, ohne die Jungs. Wenn er mittags aufstand, war sein Blick leer und ohne Erinnerung an Details.
    »Wir waren tanzen«, sagte er vage. »Irgendwo. Ich weiß gar nicht mehr so genau …«
    »Macht es dir keine Angst?«, fragte Svenja einmal. »Dass du Stücke der Nacht verlierst, wenn du zu viel trinkst?«
    »Man kann Schlimmeres verlieren«, sagte Friedel leichthin, »als ein bisschen Nacht.«
     
    Das Nachtestat fiel auf einen Freitag. Samstag würde Svenjas Vater kommen.
    Sie suchte am Morgen eine Matratze, es gab einen Keller im Haus Nummer drei, den man eigentlich nicht betreten sollte, weil er zu neunzig Prozent aus Schimmel und Mauern bestand, die einsturzgefährdet aussahen. Es gab nur in wenigen Räumen Fenster.
    Sie fand die erste Vergangenheitsform einer Matratze und schleifte sie mit Kater Carlos Hilfe nach oben in das Zimmer mit den Koffern an der Decke. Die meisten Koffer standen noch immer herum; das Kunstprojekt
Alle-Koffer-Aufhängen
war vergessen worden.
    Svenja baute etwas wie einen Tisch aus ein paar der Koffer, breitete ein indisches Tuch darüber und stellte einen Strauß blühender Zweige in einem alten Bierglas darauf. Auf die Matratze legte sie mehrere Decken, damit man den Schimmel nicht roch. Selbst schuld, man hätte ein Hotel nehmen können. Oder war ihr Vater so komplett abgebrannt, dass er sich tatsächlich keines leisten konnte? Sie wollte es nicht wissen.
    Es war ein Tag voller Farben. Sie fuhr auf dem sonnengelben Rad am Anlagensee vorbei, zwischen den kastanienfarbenen Kastanienstämmen, den Schnarrenberg hoch, ging an der fleischfarbenen Steinvagina vorüber und zog den weißen Kittel an, den Katleen für sie gebügelt hatte. Die HNO grüßte türkis vor dem blauen Himmel. Friedel ging neben ihr. Er war farblos.
    »Wir schaffen das«, flüsterte Svenja. »Es ist nur ein blödes Testat, hey. Irgendwann, wenn wir da draußen sind und Leute retten, lachen wir darüber.«
    »Ich will keine Leute retten«, sagte Friedel.
    Svenja nahm seine Hand und drückte sie. »Komm jetzt.«
    Aber die Umrisse der Tür zum Präp-Saal schienen ein wenig zu zittern, zu wachsen und wieder zu schrumpfen … Und sie wusste, sie durfte nicht daran denken, was dort auf den Tischen lag. Nicht an den Traum denken. Sie legte eine Hand an die Glaskette, die um ihren Hals lag, und da benahm sich die Tür wieder anständig

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