Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
dass du da bist«, sagte sie und stand auf, um ihm die Regenjacke abzunehmen und sie über einen Stuhl zu hängen. Die Aussage war ehrlich, aber sie dachte dabei nicht: gut für mich, sondern: gut für dich. Er sah so verloren aus, als stünde er alleine auf der Blauen Brücke. »Das ist … mein Vater …«
»Karl«, sagte Svenjas Vater. »Ich heiße Karl. Nicht dass irgendjemand auf die Idee kommt, mich zu siezen …« Er lachte, unsicher. Er war verzweifelt bemüht, jung zu sein.
Kater Carlo sprang auf und schüttelte ihm über den Tisch hinweg die Hand, etwas zu kräftig. Svenja sah, wie ihr Vater zusammenzuckte. »Wir haben gleichen Namen«, sagte Kater Carlo. »Nur dass Sie sind keine Katze. Jetzt sind genug Leute, können wir fangen.«
»Fangen?«, fragte Svenjas Vater verwirrt.
»An«, sagte Thierry. »Katleen, fütterst du die beiden Neuen, während wir erklären?«
Friedel grinste. »Die Nacht der Wölfe beginnt«, flüsterte er.
Und sie begann.
Natürlich wusste niemand, wie sie enden würde.
Die Nacht der Wölfe begann mit dem Entzünden der Kerzen.
Diesmal waren es Teelichter. Vor jedem Spieler am Küchentisch flackerte eine winzige Flamme durch die Dunkelheit, während draußen noch immer der Regen gegen die Scheiben prasselte.
»Alle ziehen jetzt eine Karte«, flüsterte Thierry. »Seht sie euch an, aber sagt niemandem, was darauf ist. Ihr seid entweder ein Mensch oder ein Werwolf. Auf manchen Menschenkarten steht noch etwas anderes … Jeder Mensch hat seine Besonderheit.«
»Die Suppe ist Wahnsinn«, sagte Svenjas Vater zu laut. »Irgendwie habe ich in der letzten Zeit hauptsächlich von Pommes oder Hamburgern gelebt …«
»Schsch«, machte Svenja.
Sie nahm ihre Karte und sah sie an. Ein Mensch, von hinten. Ein Mensch mit schlanker Taille und eindeutig weiblicher Figur.
DAS MÄDCHEN
, stand darunter,
BLINZELT NACHTS .
ABER WEHE ,
SIE WIRD VON DEN WÖLFEN ERWISCHT
.
»Zu wem gehört der kleine Junge?«, flüsterte Svenjas Vater.
Nashville saß auf dem Küchenschrank und spielte einzelne Töne auf dem Akkordeon. Er schien Thierrys Erklärung nicht zuzuhören.
»Zu mir«, flüsterte sie. »Das ist Nashville.«
»Das ist … aha. Und warum sitzt er auf dem Schrank?«
Svenja zuckte die Schultern. »Es ist Nashville.«
»Habt ihr eure Karten angesehen? Zwei von euch sind Wölfe«, flüsterte Thierry. »Aber wir wissen nicht, wer. Der Rest – das sind brave Bürger.«
Svenja sah sich in der Runde um. Nils zwinkerte ihr zu. Katleen lächelte schwarzwimpern. Friedel grinste. Nashville steckte seine Karte zwischen die Tasten des Akkordeons. Das rothaarige Mädchen bemühte sich, besonders ernst auszusehen, und Svenjas Vater sah weiterhin nur verwirrt aus: verwirrt, verloren, gefunden. Er hielt sich an der Schale mit dem Eintopf fest und studierte seine Spielkarte am längsten von allen. Kater Carlo sagte: »Ich gewinne.«
»Du kannst nicht allein gewinnen, Katerchen«, sagte Thierry. »Hört jetzt gut zu. Die Nacht sinkt über das Haus Nummer drei, und alle, die dort wohnen, schlafen ein. Dazu schließen sie die Augen … richtig so. Svenjas Vater schließt auch die Augen.«
»Ich heiße Karl …«
»Karl schließt auch die Augen. So, nun erwachen
nur
die Werwölfe, öffnen die Augen, sehen sich um … und erkennen sich.« Es war einen Moment lang still, man hörte nur angespanntes Atmen. »Gut«, sagte Thierry. »Die Wölfe suchen sich lautlos ein Opfer aus, das sie töten wollen. Sie sprechen nur durch ihre Augen miteinander. Gelbe, glühende Wolfsaugen … Das Mädchen darf in der Nacht blinzeln, um die Wölfe zu sehen. Es muss nicht, es darf nur. Wenn die Wölfe sehen, dass es blinzelt, werden sie es vermutlich bald ausschalten, deshalb sollte es sehr vorsichtig sein … Habt ihr euch geeinigt? Ja? Dann schlafen die Wölfe wieder ein.«
Svenja atmete auf.
Sie hatte nicht geblinzelt.
Diese Nacht, dachte sie, war vielleicht die Nacht am Österberg. Und dies war vielleicht kein Spiel für Nashville. Sie machte sich darauf gefasst, dass etwas geschah – dass er einen Panikanfall bekam, vom Schrank kletterte und weglief. Sie hätte vorher mit Thierry über das verdammte Spiel reden sollen. Sie hätte … Ein leiser Schrei ließ sie zusammenzucken.
»Es wird Morgen«, sagte Thierry, lauter jetzt. »Alle Bürger wachen wieder auf. Alle außer …« Svenja öffnete die Augen. Nashville saß auf dem Schrank wie zuvor. Thierry stand hinter der Rothaarigen und hatte
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